Weichenstellung in Richtung investigativer Arbeit

Im Juni 1978 publizierte die Erklärung von Bern die «Multi-Papers», vertrauliche Dokumente über ein geheimes Netzwerk von Unternehmen zur Vertretung ihrer Interessen auf globaler Ebene. Meine Erinnerungen an ein riskantes Unterfangen – das den Anfang der investigativen Arbeit der EvB markierte.

Die historische Recherche «Als Public Eye aufdeckte, wie Schweizer Konzerne die UNO unterwandert hatten» von Romeo Regenass in der Juni-Ausgabe des Public Eye Magazins ist relevant und korrekt – als Zeitzeuge darf ich das bestätigen.

Bei der Lektüre dieses Texts, 44 Jahre später, steigen bei mir Erinnerungen auf, welch‘ gewaltigem Stress wir in der Erklärung von Bern (EvB) nach der Entdeckung der «Multi-Papers» mit den geheimen Protokollen und Korrespondenzen damals ausgesetzt waren. Ich persönlich oder die EvB oder das Genfer Universitätsinstitut mussten mit einer Polizeirazzia und Beschlagnahmung der Multi-Papers rechnen.

Ich war rechtmässig durch das Testament des 1974 im Alter von 48 Jahren verstorbenen «Maître Eckenstein», so nannte man den Stardiplomaten Christoph Eckenstein in der Unctad und der Genfer UNO-Bürokratie, verfügungsberechtigt über seinen Nachlass. Testamentarisch waren auch die Genfer Professoren Pierre Bungener und Roy Preiswerk beteiligt, doch Bungener war kurz nach Eckenstein schon verstorben und Preiswerk wollte und konnte als Direktor des Genfer «Institut universitaire d’études du dévéloppement» (IUED) aus politischer Rücksichtnahme nichts damit zu tun haben.

Weil ich in Fragen der internationalen Handelsdiplomatie und (durch seine Vermittlung) als Forschungs-Consultant  in der Unctad viel mit Christoph Eckenstein zu tun hatte und auch über seine Netzwerke im Bild war, wurde mir die Tragweite dieses Nachlasses sofort bewusst.

Für mich war klar: diese Papers müssen öffentlich werden.

«Die Unterwanderung des UNO-Systems durch multinationale Konzerne» (Erklärung von Bern, 1978): Eine 60-seitige kommentierte Sammlung von Originalzitaten.

Ich hatte bezüglich der investigativen Arbeit und der politischen Auseinandersetzung schon vorher Schuppen um die Seele legen müssen. Im Nestlé-Prozess von 1974-1976 um die Babynahrungsstudie «Néstlé tötet Babys» war ich Angeklagter. Viel später, im Jahre 1991, stellten wir aus den Fichen der Bundespolizei fest, dass wir bei unsern Veranstaltungen in den siebziger Jahren laufend, sogar beim politisch harmlosen Verkauf von Ujamaa-Kaffee, vom «Staatsschutz» observiert und fichiert worden waren.

Ziel der untereinander koordinierten Schweizer Multis Nestlé, Sandoz, Hoffmann-LaRoche, Brown-Boveri und Sulzer bestand in der Beeinflussung und Unterwanderung der «UN-Group of Eminent Persons», die im Auftrag der UNO neue Regeln für die Multinationalen Konzerne erarbeiten sollte. Christoph Eckenstein war als erfahrener Diplomat der Berater dieser Konzerngruppe. Ihr Ziel war, im Einvernehmen mit Bundesbern den freisinnigen alt-Bundesrat Hans Schaffner als loyalen Experten in das hochrangige UNO-Gremium einzuschleusen, eine Spaltung herbeizuführen und einen Dissens zu manifestieren – was dann auch gelang. Alle geheimen Protokolle des Expertengremiums und alle Instruktionen an Schaffner waren in Eckensteins Multi-Papers auffindbar. Auch die Instruktionen, wie ein NZZ-Redaktor beauftragt war, die Presse-Berichterstattung im deutschsprachigen Raum zu steuern.

Neokoloniale Praktiken - und kein Unrechtsbewusstsein

Heute, im Rückblick, lässt sich aus den «Multi-Papers» schliessen: Es gab nirgends, wirklich nirgends und bei niemandem eine Spur von Unrechtsbewusstsein über die knallharten, neokolonialen Praktiken der Schweizer Konzerne in den Entwicklungsländern. Auch der Kosmopolit Christoph Eckenstein – eigentlich innerhalb der Schweiz ein unabhängiger, intellektueller Rebell – spielte als Berater mit.

Das fehlende Unrechtsbewusstsein der Wirtschaftselite zieht sich durch alle Jahrzehnte der schweizerischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. In den 1980er Jahren haben die USA die Schweiz gezwungen, Strafnormen gegen Geldwäscherei und gegen Insider-Vergehen einzuführen.

Über all die Jahrzehnte hinweg war die Finanzelite der Schweiz im festen Glauben, das Bankgeheimnis und die Steuerflucht seien ein Menschenrecht.

Die Banken-Initiative, lanciert 1978 von der SP zusammen mit NGOs, abgeschmettert in der Volksabstimmung 1984, führte vor, wie die Kritiker der Steuerflucht geradezu stigmatisiert wurden. (Ich hatte 1978 die EvB verlassen, weil mich der damalige, legendäre SP-Präsident Helmut Hubacher für die Lancierung der Banken-Initiative anheuerte.)

Die Schweiz handelt nur auf Druck von aussen

Auch Jahre später, nach der globalen Finanzkrise von 2008, musste die Schweiz durch Druck von aussen ihre selbstbezogene Wirtschaftsethik anpassen: Auf Druck der OECD musste sie das Bankgeheimnis aufgeben und den Automatischen Informationsaustausch einführen. 2018 musste sie, ebenfalls auf Druck aus dem Ausland, die steuerliche Privilegierung ausländischer Holdings und Rohstofffirmen korrigieren. Dieses fehlende Unrechtsbewusstsein in der helvetischen Wirtschaftselite manifestierte sich später erneut bei der Konzernverantwortungs-Initiative. Auch dieses Kapitel wird uns wieder einholen.

Meine Erfahrung in mehr als einem halben Jahrhundert Wirtschaftspolitik: Die Schweiz hatte nie von sich aus die Kraft, ihr Haus selber in Ordnung zu bringen. Es brauchte immer den Druck vom Ausland, der USA, der OECD, der UNO, damit sie die globalen Spielregeln respektierte.

Globalisierung erfordert globale Spielregeln. Um diese durchzusetzen, braucht es Recherche, Investigation und Durchstehvermögen der NGOs. Ich glaube, dass Public Eye, alias Erklärung von Bern, mit ihrer damals unverfrorenen Publikation der Multi-Papers ihre entscheidende Wende zu einer investigativen Knochenarbeit begonnen hatte.

«Es kommt weniger darauf an, wieviel wir wissen, sondern wie viele es wissen».

Rudolf Strahm: Emmentaler und Tiers-Mondiste

Rudolf Strahm, 78-jährig, ursprünglich Junge aus dem Emmental, zuerst Laborantenlehrling, dann Chemiker, Nationalökonom. Von 1974-1978 Sekretär der Erklärung von Bern. Später Nationalrat 1991-2004 und eidgenössischer Preisüberwacher 2004-2008. Nach der Pensionierung Dozent für Berufsberater*innen an den Unis Bern-Freiburg und aktiver Grossvater.

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Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.  

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