Stevia

© Florian Kopp
Stevia soll der neue Zuckerersatz sein. Immer mehr steviagesüsste Produkte kommen auf den Markt. 2015 deckte ein Report von Public Eye die Schattenseite der Erfolgsgeschichte auf: Die indigenen Guaraní in Paraguay und Brasilien, die das Potenzial der Pflanze als Süssstoff vor Jahrhunderten entdeckt haben, drohen dabei leer auszugehen.

Ein klassischer Fall von Biopiraterie

Stevia boomt: Softdrinks, Schokolade, Bonbons – ständig kommen neue mit Stevia gesüsste Produkte auf den Markt. Im Jahr 2015 werden weltweit schätzungsweise bereits acht bis elf Milliarden Franken mit ihnen umgesetzt, Tendenz stark steigend. Eine natürlich süsse Pflanze, die Indigene seit Jahrhunderten nutzen, erobert als gesunde Zuckeralternative den Lebensmittelmarkt. Was für eine Erfolgsgeschichte! Tatsächlich? Der von Public Eye (ehemals Erklärung von Bern) im November 2015 publizierte Bericht «Der bittersüsse Geschmack von Stevia» beleuchtet die bitteren Seiten des Geschäfts mit dem süssen Stoff.

Die multinationalen Konzerne bereichern sich auf Kosten der Guaraní

Die Kommerzialisierung von Stevia ist ein klassischer Fall von Biopiraterie: einer unrechtmässigen Aneignung genetischer Ressourcen und des damit verbundenen traditionellen Wissens. Eigentlich sollte die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen, die seit 1993 besteht, genau dies verhindern: Sie sieht vor, dass traditionelle Gemeinden einer kommerziellen Nutzung «ihrer» Ressourcen zustimmen müssen (Prior Informed Consent) und dass sie am Geschäft mit dieser Ressource gerecht beteiligt werden (Access and Benefit Sharing). Das heisst: Macht jemand Profit mit Stevia oder Steviolglykosiden, sollten die Guaraní und die Staaten Brasilien und Paraguay diesem Geschäft zustimmen und an ihm beteiligt werden.

Die Realität sieht anders aus. Das liegt einerseits dran, dass die Biodiversitätskonvention und das Abkommen zu deren Umsetzung, das Nagoya-Protokoll, in den einzelnen Ländern noch ungenügend verankert und von einigen – etwa den USA – noch nicht einmal ratifiziert sind; weshalb westliche Firmen nach wie vor ungestraft mit «gestohlenen» Gütern Geschäfte machen können. Den Steviaproduzent*innen bleibt derzeit also nur die Rolle als Zulieferer, während einige wenige westliche Konzerne mit Patenten um ihren Anteil am einträglichen Geschäft mit der Herstellung und dem Verkauf von Steviolglykosiden kämpfen. Über 1000 Patente in Bezug auf Stevia und Steviolglykoside wurden bis Ende 2014 beantragt, 46 Prozent davon alleine von acht Firmen, unter ihnen der Lebensmittelmulti Cargill und Coca Cola. 

Landwirt*innen bleiben aussen vor

Auch beim Verkauf von Stevia-Pflanzen an die Verarbeitungsfirmen spielen Paraguay und Brasilien nur eine kleine Rolle. 2011 wuchsen 80 Prozent aller zur kommerziellen Nutzung bestimmten Stevia-Pflanzen in China. Paraguay produzierte nur fünf, Brasilien gar nur drei Prozent. Meist wird Stevia von Kleinbauern in Mischwirtschaft mit anderen Pflanzen angebaut. Eigentlich liegt im kleinbäuerlichen Stevia-Anbau ein grosses Potenzial: Er ist zwar arbeitsintensiv, aber auch ertragsreich. Doch schon bald werden Steviolglykoside, die mithilfe von synthetischer Biologie hergestellt wurden, auf den Markt kommen. Setzen sie sich durch, würden die Länder, die Stevia anbauen, komplett leer ausgehen, und der ganze Profit bliebe bei wenigen grossen Firmen im Norden.

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Der Report bewegt: Was seither geschah

Nach der Publikation des Reports „Der bittersüsse Geschmack von Stevia“ im November 2015 hat sich die Ausgangslage verändert. Public Eye ist mit ausgewählten Firmen, welche Produkte mit Steviolglykosiden verkaufen, im Gespräch über Verhandlungen mit den Guaraní (siehe Box weiter unten).

Die Guarani mobilisieren sich

Über hundert Guaraní verschiedener Stämme sind Ende August 2016 in Paraguay zusammengekommen, um eine gerechte und ausgewogene Beteiligung an der kommerziellen Nutzung «ihrer» Stevia-Pflanze zu fordern. Eine solche Grossversammlung hat schon seit Jahren nicht mehr stattgefunden. Die Paî Tavytera und die Kaiowa sind zwar durch familiäre Beziehungen miteinander verbunden, aber da sie eine Landesgrenze trennt, führen sie normalerweise keine gemeinsamen politischen Aktionen durch.

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    Die Guaraní versammeln sich im Nordosten Paraguays, nahe der brasilianischen Grenze.
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    Heute sind ihre kleinen Gemeinschaften eingeschlossen zwischen riesigen Soja- oder Zuckerrohrfeldern.
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    Das Treffen der Guaraní an der heiligen Städte Jasuka Venda in Paraguay ist aussergewöhnlich.
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    Mehr als hundert Anführerinnen und Vertreter verschiedener Pai Tavytera- und Kaiowagemeinschaften versammeln sich.
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    Sie sind entschlossen, ihre Rechte als Trägerinnen und Träger des traditionellen Wissens über die Stevia-Pflanze geltend zu machen.
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    Sie fordern eine Entschädigung – am liebsten wollen sie einen Teil des Stevia-Ursprungsgebiets zurückerhalten.
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    Sie fordern eine faire Beteiligung am Gewinn aus der Kommerzialisierung der Stevia-Pflanze.
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    Als Ergebnis der Versammlung verabschieden die Guaraní eine Erklärung.

Entschlossen, ihre Rechte geltend zu machen begrüssen die Guarani den Vorschlag, mit den Konzernen eine Vereinbarung über Benefit-Sharing auszuhandeln.  Sie erwarten eine Entschädigung – und zwar am liebsten in Form von Land. Sie wollen im Falle einer Vereinbarung einen Teil des Stevia-Ursprungsgebiets zurückerhalten.

Zusammen verfassen sie eine Erklärung, in der sie sie grundsätzlich «die Respektierung unserer Gebiete, unserer Weltanschauung, unserer Autonomie und unserer Autoritäten» fordern und spezifisch eine faire Aufteilung der mit der Nutzung der Stevia-Pflanze einhergehenden Vorteile:

«Wir verurteilen, dass multinationale Firmen unser Wissen und unsere Biodiversität ausnutzen, indem sie Ka’a he’ê (stevia rebaudiana) nutzen, kommerzialisieren und davon profitieren, ohne dass wir, die wahren Eigentümer, die  Paî Tavyterâ und die Kaiowa, konsultiert wurden.»

Forderungen: Gegen Biopiraterie – für eine faire Lösung

Im November 2016 hat Public Eye einen Nachfolgereport veröffentlicht, der die wichtigsten Entwicklungen seit unserem ersten  Report von 2015 zusammenfasst: die Positionierung der Guaraní, die Ergebnisse aus der Firmenbefragung sowie einige rechtliche Rahmenbedingungen, welche sich seit der ersten Publikation verändert haben.

Im Juni 2017 forderten über 260'000 Personen mit einer Petition Coca-Cola dazu auf, mit den Guaraní eine gerechte Aufteilung der Gewinne auszuhandeln.

Dialog mit den Unternehmen

Wären die Unternehmen bereit, die Guaraní angemessen zu beteiligen? Um das herauszufinden, hat Public Eye nach der Veröffentlichung des Berichts das Gespräch mit den Hauptproduzenten und -nutzern von Stevia-basierten Süssstoffen, den Steviolglykosiden, gesucht. Manche Zeichen sind ermutigend: Einige Firmen schweigen zwar und andere zögern, aber mehrere Unternehmen zeigen sich bereit, im Rahmen von Verhandlungen mit den Guaraní gemäss Biodiversitätskonvention auf eine gerechte und ausgewogene Aufteilung der Vorteile hinzuarbeiten, die sich aus der Nutzung von Stevia ergeben.

Einige Firmen wie Unilever oder Ricola sind überhaupt nicht auf unsere Anfrage eingegangen. Andere, Coca Cola oder Pepsi beispielsweise, haben geantwortet – dass sie nicht beabsichtigen, unsere Fragen zu beantworten.

Es gab aber auch zahlreiche positive Rückmeldungen, gerade aus der Schweiz:

  • Die Firma Evolva, die mit Cargill zusammenarbeitet, um mittels synthetischer Biologie Steviolglykoside herzustellen, ist bereit, «mit den Guaraní in einen Dialog über die Vorteilsaufteilung im Sinne der Biodiversitätskonvention zu treten».
  • Nestlé sagte, sie unterstütze vollumfänglich das Prinzip des gerechten und ausgewogenen Vorteilsausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen, wie es in der Konvention zur Biodiversität festgeschrieben sei, und sei bereit, gemeinsam mit anderen Unternehmen, mit den Guarani über einen Vorteilsausgleich zu diskutieren.
  • Migros signalisiert, man befürworte das Prinzip der Vorteilsaufteilung und hat sich ausserdem bereit erklärt, den spezifischen Fall der Steviolglykoside direkt mit ihren Lieferanten zu diskutieren.
  • Auch die Schweizer Getränkefirma Goba deutete ihre Kooperationsbereitschaft für die Umset­zung des Vorteilsausgleichs mit den Guaraní an. Ähnlich der Schokoladehersteller Stella Bernrain, der mit Lieferanten zusammenzuarbeiten will, die ihre Rohstoffe aus den Herkunftsländern beziehen und ihren Nutzen mit den Guaraní teilen.