Blinde Flecken im Denken der WTO
15. Oktober 1999
Im Frühling dieses Jahres nahm ich an einer WTO-Konferenz auf hoher Ebene zum Thema «Handel und Entwicklung» teil. Während zwei Tagen folgten sich Kurzreferate und Voten Schlag auf Schlag. Kurz vor Ende, am Abend des zweiten Tages, schüttelte eine Kollegin einer Nichtregierungsorganisation aus Washington verzweifelt den Kopf und meinte: «Es wird immer nur von den WTO-Regeln gesprochen, aber nie davon, was diese eigentlich für den Alltag von Menschen bedeuten». Da entstand die Idee für diese Tagung.
Wohl sind die genauen Auswirkungen der WTO in den einzelnen Länder noch kaum bekannt. Dennoch möchten wir versuchen, diese Regeln ein wenig auf den Alltag herunterzubrechen und dabei einige blinde Flecken im WTO-Konzept aufzudecken.
Besonders zwei Aspekte möchten wir anlässlich des morgigen Welternährungstages beleuchten:einerseits die Auswirkungen auf die Ernährungssituation, speziell auf die Nahrungssicherheit und andererseits darauf, welche Auswirkungen die WTO-Abkommen auf Frauen haben können, deren Lebenssituation oftmals anders aussieht als diejenige der Männer. Dieser Aspekt wurde bis anhin noch kaum beachtet.
Blinde Flecken im Denken der WTO
In wenigen Wochen, nämlich vom 30. November bis zum 4. Dezember, werden sich in Seattle die Handels- und Wirtschaftsminister der 134 WTO-Mitgliederländer zur dritten Ministerkonferenz treffen. Die Ministerkonferenz ist das höchste Organ der WTO. Sie soll eine neue Liberalisierungsrunde einläuten, die bereits Millenniumrunde genannt wird. Dies versuchen vor allem die nördlichen Industrieländer, voran auch die Schweiz, durchzusetzen. Die Schweizer Regierung unterstützt eine weitere Liberalisierung des internationalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen. Sie möchte ausserdem neue Bereiche wie zum Beispiel Investitionen den WTO-Handelsregeln unterstellen. Was ist diese WTO denn genau?
Die Welthandelsorganisation WTO ist die direkte Nachfolgerin des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT (General Agreement on Tariffs and Trade). Das GATT-Abkommen geht auf Bestrebungen der Vereinigten Staaten zurück, die schon während dem Zweiten Weltkrieg eine neue politische und wirtschaftliche Weltordnung entwarfen. Diese Weltordnung sah unter anderem eine umfassende Liberalisierung des Welthandels vor. Durch das GATT sollten die Zölle sukzessiv abgebaut werden. Die Mitglieder verpflichteten sich – durch das heute noch gültige Prinzip der Meistbegünstigung – allen Ländern die gleichen Handelsvergünstigungen zu gewähren. 1948 traten 54 Staaten dem GATT bei. Die Schweiz ist seit 1957 Mitglied.
1995, nach der achtjährigen Uruguay-Verhandlungsrunde, entstand aus dem GATT-Abkommen die Institution der WTO. Sie umfasst zur Zeit 134 Staaten.
Neue Aufgaben
Die neue WTO hat die alten GATT-Verträge nicht etwa aufgehoben. Vielmehr übernahm sie die Aufgabe, die Einhaltung dieser Verträge zu überprüfen und – dies ist das neue – in Streitfällen zu schlichten und über Sanktionen gegen die vertragsverletzende Partei zu entscheiden. Die WTO fungiert also in allen globalen Handelsfragen als eine Art Weltgericht. Ihre Urteile können Strafen und Ausgleichszahlungen in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollars nach sich ziehen. Dies bedeutet völkerrechtlich eine für Wirtschaftsorganisationen neue Dimension. Das internationale Schiedsgericht der WTO ist jedoch keine unparteiische Instanz, denn es besteht lediglich aus drei Handelsexperten. Andere Experten, etwa aus dem Umwelt- oder Menschenrechtsbereich, sind nicht zugelassen und werden nicht angehört.
Neue Geltungsbereiche
Die WTO übernahm nicht nur neue Aufgaben – auch ihr Geltungsbereich wurde massiv erweitert. Zusätzlich zum bestehenden GATT, das den Handel mit Gütern regelt, unterzeichneten die Handels- und Wirtschaftsminister zwei neue Abkommen: das eine über den Handel mit Dienstleistungen, das andere über geistige Eigentumsrechte, auch unter dem Namen TRIPs-Abkommen bekannt. Die Integration des Dienstleistungssektors und der geistigen Eigentumsrechte in das internationale Handelssystem bewirkt eine massive Ausweitung und Aufwertung der Handelspolitik. Selbst so heikle Bereiche wie das Gesundheits- und das Bildungswesen, die bisher durch politische Massnahmen geschützt werden konnten, drohen dadurch dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt zu werden.
Theorie
Die WTO-Regeln basieren auf der Ansicht, ein freier Handel bringe weltweit den grössten ökonomischen Nutzen. Dahinter steckt die Überzeugung, Märkte, nicht Regierungen sollten die Produktion und Verteilung von Waren und Dienstleistungen global bestimmen. An der ersten Ministerkonferenz in Singapur 1996 stellten sich die Handelsminister eine Welt vor, in der der Handel frei fliesst. Dies werde grösseres Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand mit sich bringen; der Nutzen würde allen, ja sogar der Umwelt zukommen.
...und Praxis
Von dieser allzu naiven Vorstellung ist man unterdessen, drei Jahre später, etwas abgekommen. Entgegen der Absicht, Wohlstand unter Wahrung von Nachhaltigkeit zu fördern – so steht es in der Präambel - haben die WTO-Regeln nicht dazu beigetragen, die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung zu verbessern. Es ist nicht gelungen, Umweltanliegen in die WTO-Regeln zu integrieren. Der Wohlstand hat sich für die wenigsten erhöht: Die Einkommensunterschiede zwischen den ärmsten und den reichsten Menschen und Ländern haben laut zahlreichen Berichten weiter zugenommen.
Die Anliegen der ärmsten Länder werden wenig berücksichtigt. Gemäss dem UNO-Bericht über die menschliche Entwicklung 1997 gehören beispielsweise die Länder südlich der Sahara zu den grossen Verlierern der WTO-Politik.
Für sie dürfte das folgende Zitat, das aus einer WTO-Propagandabroschüre von 1999 stammt, zynisch klingen:
«Denk an alle Dinge, die wir nun haben können, weil wir sie importieren können: Saisonunabhängige Früchte und Gemüse, Kleider und andere Produkte, die für uns früher exotisch waren, Schnittblumen aus allen Teilen der Welt, alle Arten von Haushaltwaren, Bücher, Musik, Kinos und so weiter.»
Die WTO nimmt ausser der Förderung des Lebensstandards für sich in Anspruch, zu einem weltweiten Frieden beizutragen, denn die WTO-Abkommen, so lautet ihre Argumentation, würden von allen Mitgliedern verhandelt und im Konsens gutgeheissen. Handelskonflikte könnten sowohl von reichen als auch von armen Ländern vor die Streitschlichtung gebracht werden.
Tatsächlich sind viele Entwicklungsländer der Welthandelsorganisation beigetreten, weil diese internationale Institution für sich in Anspruch nimmt, verbindliche, für alle geltende Regeln zu vertreten, die zudem einklagbar sind. Dadurch sind südliche Länder theoretisch nicht mehr vollständig der Willkür einzelner mächtigeren Staaten ausgesetzt. Sie mussten aber immer wieder die Erfahrung machen, dass vor allem die grossen vier, nämlich die USA, die EU, Japan und Kanada ihre Interessen durchsetzen konnten. Dies ist eigentlich erstaunlich, machen doch die Entwicklungsländer in der WTO zahlenmässig beinahe zwei Drittel aus. Zudem muss jede Entscheidung im Konsens gefällt werden. Jedoch bestreitet der eine Drittel der Industriestaaten rund 80% des Aussenhandels und versteht es entsprechend besser, seine Macht und den entsprechenden Druck auszuüben.
Bis anhin hat sich die WTO noch nicht allzu friedensfördernd gezeigt. Vielmehr hörten wir in den Zeitungen, dass die WTO-Streitschlichtung sich mit wahrlichen Handelskriegen vornehmlich zwischen den USA und der EU befasste. Sei dies im Bananenkrieg, in dem das Schiedsgericht für die von den USA unterstützte Bananenindustrie und gegen die EU entschied, die einen grossen Teil ihrer Bananen aus den kleineren Afrika-Karibik-Pazifik Staaten bezieht. Auch in einem weiteren berühmten Beispiel entschied das Schiedsgericht gegen die EU, die sich bis anhin weigerte, hormonbehandeltes Rindfleisch aus den USA einzuführen, weil Verdacht besteht, dass dieses Fleisch krebsfördernd wirkt. Diese beiden Entscheide und weitere Beispiele haben gezeigt, dass in der WTO Handelsregeln isoliert angesehen werden, dass sie die höchste Priorität geniessen und höher gewichtet werden als die Unterstützungsmöglichkeit der ärmsten Länder, als Gesundheits- und Umweltstandards.
Zur Streitschlichtung bleibt im übrigen anzumerken, dass bis anhin kein einziges afrikanisches Land von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Die Streitschlichtung ist einerseits ein kompliziertes, langwieriges Verfahren und kostet entsprechend Geld.
Das Problem der ungleichen Machtverhältnisse wird aber von der WTO weitgehend ausgeblendet. Es werden die Möglichkeiten betont, die die einzelnen Länder haben, aber es wird kaum darauf eingegangen, dass die meisten Länder diese Möglichkeiten gar nicht in Anspruch nehmen können. Entlarvend ist zum Beispiel, dass in der besagten WTO-Broschüre nur Beispiele aus den USA, England und Australien zitiert werden: Diese Länder würden von Ihrer WTO-Mitgliedschaft profitieren.
Wohl werden den ärmsten Ländern fünf oder sogar zehn Jahre eingeräumt, um die WTO-Abkommen umzusetzen. Die Erfahrung zeigt aber bereits, dass viele auch dann nicht in der Lage sein werden, diese aufwendigen Regelungen umzusetzen.
Laut dem neuesten Bericht der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad) kamen die in der Uruguay-Runde vereinbarte Liberalisierung und Öffnung der Märkte in erster Linie den Industriestaaten zugute. Vielen Entwicklungsländern brachte sie ein sprunghaftes Anschwellen der Importe, welches von keiner entsprechenden Steigerung der Exporte begleitet war.
Das Beispiel Philippinen zeigt, dass durch den Import von Reis die Existenz zahlreicher Reisbäuerinnen gefährdet ist.
Regierungen südlicher Länder, vorab Indien, Ägypten, Malaysia und zunehmend afrikanische Staaten, möchten sich den Fahrplan nicht mehr nur von den nördlichen Industriestaaten diktieren lassen. Sie plädieren im Namen zahlreicher ärmerer Länder für eine Entwicklungsrunde. Am Ministertreffen der Gruppe der 77 (denen 130 Entwicklungsländer angeschlossen sind) wurde Mitte September der Slogan «Review, Repair und Reform» der WTO kreiert, also Überprüfen, Reparieren, reformieren der WTO. Bevor in einer sogenannten Millenniumrunde neue Bereiche den WTO-Regeln unterstellt werden sollen – so verlangen sie - müssten zuerst die Auswirkungen der bisherigen Abkommen untersucht werden. Und vor allem müssten die Versprechen erfüllt werden, die die Industrieländer südlichen Ländern gemacht haben, nämlich
- erstens, die eigenen Agrarsubventionen abzubauen
- zweitens, ihre Märkte für Produkte aus den ärmsten Ländern zu öffnen
Nichtregierungsorganisationen auf der ganzen Welt haben sich der Forderung angeschlossen, dass vor einer neuen Liberalisierungsrunde zuerst die zurückliegende evaluiert werden soll: ihre Auswirkungen auf die Umwelt, auf die soziale Situation von Männern und Frauen sowie auf die Arbeitnehmer- und Menschenrechte. Ein entsprechendes Manifest wurde bereits von über 1100 Organisationen aus 87 Ländern unterschrieben.
Bei der WTO selbst scheint im Vorfeld der dritten Ministerkonferenz in Seattle auf höchster Ebene ein Umdenken stattzufinden: Der neue Generaldirektor Mike Moore hat kürzlich in Genf zugegeben, dass in den bisherigen GATT-Runden die Industriestaaten übermässig bevorzugt wurden. In einer nächsten Runde müsse vermehrt auf die Entwicklungsländer Rücksicht genommen werden. Moore versprach konkret, sich prioritär dafür einzusetzen, dass den ärmsten Staaten der Erde, die mit nur 0,5% am Welthandel partizipieren, ein besserer Zugang zu den Märkten des Nordens gewährt werde. Auch sollen laut einem ersten Entwurf einer Ministererklärung, die Entwicklungsländer bei ihrer Arbeit in der WTO unterstützt werden.
Ob es also zu einer Millenniumrunde kommen wird, ist im Augenblick noch unklar.
Fest steht lediglich, dass sowohl das Agrarabkommen sowie das Abkommen über Dienstleistungen neu verhandelt werden. Dies wurde bereits in der letzten Verhandlungsrunde, der Uruguay-Runde, vereinbart.
Ernährungsziele in den Vordergrund
Eine Evaluation des Agrarabkommens muss dazu dienen, die Grundanliegen der Ärmsten ins Zentrum zu stellen. Die Ernährungssicherheit der ärmsten Länder muss im zukünftigen WTO-Rahmen verankert und das Menschenrecht auf Nahrung im WTO-Regelwerk garantiert werden.
Weiter müssen die Subventionen der Industrieländer stärker abgebaut werden: Gemäss Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD wendet die Schweiz pro Jahr 4,6 Milliarden Dollar für die Landwirtschaft auf, die Europäische Union gar 72,7 Milliarden Dollar. Der Norden produziert viel zu viel. Die Überschüsse werden subventioniert und zu billigen Preisen in ärmere Länder exportiert. Oft wird die Überproduktion auch als Nahrungsmittelhilfe verteilt. Beides hat zerstörerische Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft:
Handelsliberalisierung: Unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen
Die Erfahrungen der Strukturanpassungsprogramme, die den Ländern des Südens von Weltbank und IWF auferlegt wurden, haben gezeigt, dass Handelsliberalisierungen sehr unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen haben können. Dies aufgrund der unterschiedlichen Lebenssituation von Frauen, insbesondere aufgrund ihrer noch mancherorts untergeordneten Stellung. Entsprechende Analysen waren jedoch in der WTO bis anhin kein Thema. Dabei sind zahlreiche Regierungen, auch die schweizerische, an der UNO-Frauenkonferenz in Peking die Verpflichtung eingegangen, Geschlechter-Perspektiven, auch Gender-Perspektiven genannt, in der makroökonomischen Politik mitzudenken.
In der Schweiz ist man bisher mit der Forderung, diese unterschiedlichen Auswirkungen für Frauen in das WTO-Konzept miteinzubeziehen, auf taube Ohren gestossen. Nun setze man sich bereits für das Umweltthema ein, man könne sich nicht auch noch mit dem Gleistellungsthema befassen, wurde meine entsprechende Frage beantwortet. Ich freue mich darum umso mehr, dass am Podiumsgespräch heute Nachmittag sowohl ein Vertreter der WTO als auch ein Vertreter des Staatssekretariats für Wirtschaft seco teilnehmen wird und dass sie sich vom etwas provozierenden Titel «Weiss, männlich, satt?» nicht abschrecken liessen.
Die WTO könne nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Tatsächlich kann die Welthandelsorganisation den unterschiedlichen Ansprüchen, die Armut zu beseitigen, die sozialen Verhältnisse zu verändern, die Umwelt zu schützen und die Geschlechterbeziehungen zu verbessern, niemals nachkommen.
Die WTO-Regeln sollen aber mindestens dazu beitragen, dass sich die bestehenden Verhältnisse auf keinen Fall verschlechtern.