Keine Pharma-Monopole während der Pandemie
Zürich, Genf, 18. November 2020
Eine entscheidende Etappe im Hinblick auf einen gerechten Zugang zu Diagnosetests, Behandlungen und Impfstoffen gegen das Corona-Virus spielt sich zurzeit bei der Welthandelsorganisation WTO ab. Vor dem Hintergrund der erwarteten Lieferengpässe stellten Indien und Südafrika Anfang Oktober – entsprechend den WTO-Regeln für ausserordentliche Umstände – einen Antrag auf vorübergehende Aufhebung bestimmter Auflagen des Abkommens über geistige Eigentumsrechte (TRIPS) für Produkte zur Bekämpfung von Covid-19.
Zwar ergriff die Weltgesundheitsorganisation WHO solidarische Initiativen wie die COVAX für Impfstoffe, doch solche globalen Mechanismen stehen vor einem grossen Hindernis: dem geistigen Eigentum, das Patente, Fachwissen und vertrauliche Daten umfasst. Dieses unterbindet den Wissensaustausch und den raschen Ausbau von Produktionsstätten für dringend benötigte medizinische Produkte.
Unzulässige Gewinnmarge
Dabei liegt ja auf der Hand: Es wird nicht genug für alle geben. Die finanzkräftigeren Länder, weniger als 20% der Weltbevölkerung, haben bereits fast 4 Milliarden Impfstoffdosen reserviert, die gegebenenfalls um weitere 5 Milliarden aufgestockt werden können. Die weltweite Produktion 2021 wird jedoch auf höchstens 8 Milliarden geschätzt - wenn alles gut geht. COVAX will bis Ende 2021 2 Milliarden Dosen verteilen, doch wie sollen diese beschafft (und finanziert) werden? Inzwischen liegen die Hoffnungen für antivirale Medikamente auf sehr teuren Antikörpertherapien, deren Herstellung äusserst begrenzt sein wird. Eine kürzliche Vereinbarung über die Verteilung von 120 Millionen Schnelltests sieht lediglich 20% für 133 Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen vor, die jedoch fast 80% der Weltbevölkerung ausmachen. Hinter diesen alarmierenden Zahlen stecken Exklusivrechte, die den Unternehmen des Nordens die volle Entscheidungsgewalt darüber gewähren, welche Mengen zur Verfügung gestellt werden und wer davon profitieren wird.
Die finanzschwächeren Länder werden sich mit den übrig gelassenen Krümeln vom Kuchen der reicheren Länder begnügen müssen.
Angesichts dieser Pandemie und der damit verbundenen Forschungsbemühungen ist das Argument, dass Patente den Investitionsaufwand decken sollen, völlig unangebracht. Denn diese Bemühungen werden durch massive öffentliche Subventionen getragen. Die USA geben 10 Milliarden Dollar dafür aus, so dass die Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) der amerikanischen Firma Moderna, einer der Favoriten im Wettlauf um einen Impfstoff, zu 100% aus Steuergeldern gedeckt werden. Die EU-Kommission veranstaltete einen internationalen Spendenmarathon, bei dem Staaten, darunter die Schweiz, rund 16 Milliarden Euro zusicherten, um die Entwicklung und Herstellung von Tests, Medikamenten oder Impfstoffen gegen Covid-19 zu beschleunigen und weltweit einen fairen Zugang zu garantieren. Diese öffentlichen Beiträge befreien die Pharmaindustrie vom Risiko. Die Impfstoff-Vorbestellungen durch wohlhabende Länder garantieren den Pharmakonzernen den Absatz ihrer Produkte zu einem Preis, der ihnen ungebührliche Gewinnmargen einbringt.
Würde die von Indien und Südafrika vorgeschlagene TRIPS-Ausnahmeregelung angenommen, könnte jeder WTO-Mitgliedstaat beschliessen, das geistige Eigentum auf diese Produkte zur Bekämpfung von Covid-19 während der Dauer der Pandemie ausser Acht zu lassen. Lokale Unternehmen, die über das nötige Know-how verfügen, dürften also Tests, Behandlungen oder Impfstoffe herstellen, ohne lange eine Lizenz aushandeln zu müssen.
Millionen Menschenleben stehen auf dem Spiel
Bei der ersten WTO-Debatte Mitte Oktober lehnte die Schweiz die TRIPS-Ausnahmeregelung unter dem Vorwand ab, Patente würden in dieser Krise kein Hindernis darstellen. Das ist falsch, und es wurden bereits zahlreiche Patente erteilt, namentlich auf Covid-19-Impfstoffe (Moderna und Pfizer befinden sich mitten in einem Rechtsstreit).
Der TRIPS-Rat soll bis Ende Dezember einen Beschluss fassen. Die Schweiz täte gut daran, der Forderung der WHO und der Zivilgesellschaft nachzukommen und den Antrag auf eine Ausnahmeregelung zu unterstützen. Millionen Menschenleben stehen auf dem Spiel. Die Schweiz kann mithelfen, sie zu retten.
Ruth Dreifuss, Altbundesrätin, Vorsitzende mehrerer UN-Kommissionen zu Gesundheit und geistigem Eigentum
Patrick Durisch, Gesundheitsexperte der NGO Public Eye