Kinderarbeit nimmt weltweit zu – und die Schweiz stiehlt sich aus der Verantwortung
Zürich, Lausanne, 1. Juli 2021
Gemäss dem neusten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation ILO steigt die Zahl der Kinderarbeiter*innen zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder an. 160 Millionen Kinder – fast eines von zehn Kindern weltweit – sind von missbräuchlicher Kinderarbeit betroffen; 8 Millionen Kinder mehr als bei der letzten Erhebung 2016. Die Altersgruppe zwischen 5 und 11 Jahren verzeichnet dabei sogar die grösste Zunahme.
Kein Ende in Sicht
Knapp die Hälfte der unter missbräuchlichen Bedingungen arbeitenden Kinder verrichten nicht nur für ihr Alter unzulässige, sondern auch gefährliche oder gesundheitsschädliche Tätigkeiten. Viele können zudem nicht zur Schule gehen, was nicht nur ihre Entwicklung, sondern auch ihre Zukunftschancen erheblich beeinträchtigt. Eine Verbesserung ist auch im UNO-Jahr zur Bekämpfung von Kinderarbeit nicht in Sicht, im Gegenteil: Bis Ende 2022 werden aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie schätzungsweise zusätzliche 9 Millionen Kinder von missbräuchlicher Kinderarbeit betroffen sein. Das zeigt, dass die bestehenden Massnahmen bei weitem nicht ausreichen, um Kinderarbeit vorzubeugen, geschweige denn zu eliminieren.
Nestlé und Cargill: Straflose Kindersklaverei geht weiter
Die ILO schlägt deshalb vor, Kinderarbeit vermehrt aus der Perspektive globaler Wertschöpfungsketten anzugehen. Genau dies geschieht jedoch viel zu wenig. Jüngstes Beispiel ist der am 17. Juni 2021 gefällte Entscheid des Obersten Gerichtshofs der USA, sich nicht mit einer seit 16 Jahren hängigen Klage gegen Nestlé und Cargill wegen Kindersklaverei zu befassen. Der Supreme Court verhindert damit, dass die sechs ehemaligen Kindersklaven aus Mali endlich ihr Recht auf Wiedergutmachung einklagen können.
Die beiden Unternehmen hatten sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt, für die missbräuchlichen Arbeitsbedingungen auf Westafrikas Kakaoplantagen mitverantwortlich gemacht zu werden. Obwohl weder Nestlé noch Cargill die Missstände bestreiten, lehnen sie jegliche Haftung dafür ab. Das ist mehr als zynisch und wird die beiden Kakaoriesen als jene Firmen in die Geschichte eingehen lassen, welche Straflosigkeit sogar im Falle von Kindersklaverei fordern.
Der Entscheid des US Supreme Court zeigt einmal mehr, dass Profite von Unternehmen weltweit vor Menschen- und Kinderrechte gestellt werden.
Auch die Schweiz stielt sich aus der Verantwortung
Es ist nun umso wichtiger, dass die Schweiz eine Basis schafft, um ihre eigenen Unternehmen zu einer wirksamen, menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfung zu verpflichten. Das Volksmehr zur Konzernverantwortungsinitiative zeigt, dass die Mehrheit der Stimmbürger*innen Konzerne stärker in die Verantwortung nehmen will.
Die Umsetzung des Gegenvorschlags zur Konzernverantwortungsinitiative wird dem jedoch nicht im Entferntesten gerecht und scheint geradezu darauf ausgelegt zu sein, bei Sorgfaltsprüfungen im Bereich Kinderarbeit möglichst viele Ausnahmen vorzusehen. So sind zum Beispiel KMU ungeachtet der Kinderarbeitsrisiken in ihren Lieferketten komplett ausgenommen. Unternehmen können sich dem Schweizer Gesetz auch entziehen, indem sie in einem Bericht ein anderes internationales Regelwerk erwähnen. Sogar Grossunternehmen sollen von ihrer gesetzlichen Sorgfaltspflicht befreit werden, wenn sie darlegen, dass sie Produkte aus einem Land mit einem geringen Kinderarbeitsrisiko beziehen. Sie müssen dann nicht einmal mehr prüfen, ob ein begründeter Verdacht auf Kinderarbeit besteht. Dies ist weit entfernt von einem risikobasierten Ansatz, welcher mittlerweile international als zielführender Standard anerkannt ist.
Es ist zu befürchten, dass mit dem verwässerten Gegenvorschlag fast kein Unternehmen mehr eine Sorgfaltsprüfung bezüglich Kinderarbeit durchführen muss.
Hohe Schwellenwerte und Konfliktgebiete statt konkrete Risiken
Auch im Bereich Mineralien und Metalle schafft der Bundesrat weitgehende und gesetzeswidrige Ausnahmen. Die Schwellenwerte für die Sorgfaltspflicht für Goldimporteure und -händler sind derart hoch angesetzt, dass sogar die betroffene Branche in der EU sie kritisiert. Zudem führt die Beschränkung der Sorgfaltspflicht auf den Rohstoffabbau in Konflikt- und Hochrisikogebieten zu einem Fokus auf das allgemeine Konfliktpotential eines Landes anstatt auf lokale, menschenrechtliche Risiken im Zusammenhang mit konkreten Minen – obwohl sich Menschenrechtsverletzungen immer lokal manifestieren.
Public Eye legt in der Vernehmlassungsantwort zum Umsetzungsentwurf diese sowie weitere gravierende Mängel dar und fordert den Bundesrat auf, die dringend nötigen Änderungen vorzunehmen. Dies ist aufgrund der Rolle der Schweiz als globale Drehscheibe des Rohstoffhandels und Sitzstaat zahlreicher multinationaler Unternehmen, und angesichts der tragischen weltweiten Entwicklungen bei der Kinderarbeit das Mindeste, was die Schweiz tun muss. Falls sie es wirklich ernst meint beim Schutz der Menschen- und Kinderrechte weltweit.