Menschenrechte haben Vortritt – theoretisch
16. Juni 2010
«Der Welthandel muss in den Dienst der Rechte der Menschen gestellt werden. Das heisst, dass die Menschenrechte den Rahmen für alle handelspolitischen Entscheide bilden müssen.» Dies forderte die Erklärung von Bern (EvB) bereits vor zehn Jahren in ihrer Dokumentation «Menschenrechte Wirtschaft». In der Zwischenzeit ist das Thema auch bei der Welthandelsorganisation WTO angekommen. So hat WTO-Chef Lamy in einer Rede zu Beginn des Jahres 2010 eingeräumt, dass Handelsregeln Auswirkungen auf die Menschenrechte haben können. Marktöffnungen würden daher starke soziale Sicherheitsnetze erfordern, um auf nationaler Ebene die Ungleichgewichte zwischen den Gewinnern und den Verlierern zu korrigieren. Was er nicht sagte: Die wenigsten Entwicklungsländer verfügen über die notwendigen sozialen Netze zum Schutz der Verlierer.
Gibt es Konflikte zwischen den Verpflichtungen zum Schutz und der Förderung der Menschenrechte und den WTO-Verpflichtungen zur weiteren Öffnung der Märkte, müssen die Staaten Ersteren den Vorrang geben – dazu haben sie sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Uno-Charta und an der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 verpflichtet. Um das Primat der Menschenrechte sicherzustellen, braucht es einen menschenrechtlichen Bezugsrahmen in der Handelspolitik. Einen solchen hat die EvB auch für die Doha-Runde gefordert.
In bilateralen Freihandelsabkommen sind Konflikte zwischen Handel und Menschenrechten noch wahrscheinlicher, da diese im Vergleich zu multilateralen Abkommen weitergehende Liberalisierungen anstreben und auch den Schutz von geistigen Eigentumsrechten auszudehnen versuchen. Das gilt insbesondere für die Schweiz. Sie riskiert, damit ihre Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte in den Partnerländern zu missachten. Darauf weist eine NGO-Koalition – darunter die EvB – in ihrer Eingabe ans Uno-Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hin. Die Organisationen kritisieren, dass die von der Schweiz geforderte Stärkung der Eigentumsrechte zur verzögerten Einführung preisgünstiger Generika führt und damit den Zugang der armen Bevölkerung zu erschwinglichen Medikamenten erschwert. Auf diese Weise gefährden Freihandelsabkommen der Schweiz das Recht auf Gesundheit.
Die schweizerischen Forderungen im Bereich Eigentumsrechte führen auch dazu, dass Bauern und Bäuerinnen nicht mehr selbstständig über ihr Saatgut verfügen können und sich die landwirtschaftliche Produktion im Süden verteuert. Beides bedroht das international verbriefte Recht auf Nahrung. Um solche Konflikte zu verhindern, fordert die EvB die Schweizer Regierung auf, vorgängige Analysen zu den menschenrechtlichen Auswirkungen von Handelsabkommen durchzuführen.
Text: Thomas Braunschweig