Vernichtung neuwertiger Kleidung: Der Bundesrat stochert weiter im Nebel
Zürich, Lausanne, 3. April 2023
Eigentlich ist klar: neuwertige Kleider, Schuhe und andere einwandfreie Waren sollten nicht vernichtet werden, das wäre Ressourcenverschwendung. Doch insbesondere im Onlinehandel mit seiner hohen Retourenquote werden erhebliche Mengen unverkaufter, einwandfreier Waren vernichtet – besonders hoch ist das Risiko bei billigen und saisonalen Fast-Fashion-Produkten. Dies zeigten z.B. Recherchen in den Logistikzentren von Amazon; verlässliche Daten zum Ausmass dieses Problems gibt es jedoch nicht.
Um diese Lücke zu füllen, beauftragte der Nationalrat den Bundesrat 2021 mit dem Postulat 20.3110 «Keine neuen Produkte wegwerfen. Stopp der Verschwendung!», einen Bericht über den Umgang mit nicht verkauften Waren durch Schweizer Unternehmen vorzulegen. Nach fast zwei Jahren, am 3. März 2023, verabschiedete der Bundesrat den finalen Bericht mit dem Titel «Abfallwirtschaft, Abfallvermeidung, Abfallplanung, Messung».
Die Fast-Fashion-Firmen ducken sich weg
Doch statt aussagekräftige Daten zu liefern, zeigt der Bericht leider vor allem, wie der Bundesrat weiter im Nebel stochert. Laut einer für den Bericht in Auftrag gegebenen Erhebung bei 56 Unternehmen «werden in der Schweiz durchschnittlich rund 5% der gesamten Ware im Textilbereich (Bekleidung, Schuhe und weitere Haushaltstextilien) nicht verkauft». Doch wie verlässlich sind diese Angaben, die auf Selbstdeklarationen beruhen? Welche Firma gibt schon gerne die Vernichtung neuwertiger Produkte zu? Und welche Aussagekraft hat eine Umfrage, welche die grossen internationalen Fast Fashion Firmen nicht beantwortet haben - also genau jene, bei denen das Vernichtungsrisiko am höchsten ist?
Wie wir wissen, wissen wir nichts
Die wenigen neuen Daten, die der Bericht liefert, bleiben vage: «Etwas mehr als 10% der befragten Unternehmen gaben an, unverkaufte Textilien zu exportieren, zu re- oder downcyceln oder in einer Kehrichtverwertungsanlage zu entsorgen». Lapidar fasst er zusammen: «Wie sich die unterschiedlichen Weiterverwendungsarten prozentual zusammensetzen, lässt sich auf Basis der verfügbaren Antworten nicht abschätzen». Trotz dieser mangelhaften Datenbasis bemüht der Bericht einen Vergleich mit einer niederländischen Umfrage, der zufolge der Vernichtungsanteil bei rund 6% liegt. Verrechnet mit den 5% unverkauften Waren aus der Schweizer Umfrage wagen die Autor*innen schliesslich eine grobe Schätzung: «Auf die Gesamtmenge betrachtet, würden also gemäss Angaben von Unternehmen in Umfragen ca. 0,3% der produzierten Textilien vernichtet, weil sie weder verkauft noch einer anderen Art der Nutzung zugeführt werden konnten.» Was der Folgesatz bereits wieder einschränkt: «Diese Resultate sind unter Vorbehalt zu stellen: Es muss aus verschiedenen Gründen davon ausgegangen werden, dass der Anteil unverkaufter Textilien, welche direkt vernichtet werden, höher liegt».
Der Bund hat auch bei 14 Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen nachgefragt. Eine «systematische Vernichtung von Retouren-Waren aus der Fast-Fashion-Branche» sei dort nicht bekannt. Grund zur Entwarnung ist dies allerdings nicht, denn die Logistik wird überwiegend im Ausland organisiert.
Statt hier - sowie bei den die Auskunft verweigernden Firmen - nachzuhaken, beschränkte der Bund sich auf höfliches Nachfragen; und auch zur Vernichtung von neuwertigen Waren in den Haushalten forschte er nicht nach. Seine Zahlen zum privaten Textilkonsum (20 kg pro Kopf im Jahr) und seine These, wonach «deutlich mehr neuwertige Textilien direkt über Privatpersonen entsorgt werden als über den Handel» stützt er nur auf grobe Schätzungen Dritter und Vermutungen. Die These ist nicht abwegig, doch gerade darum hätte es Nachforschungen gebraucht, um gezielte Gegen-Massnahmen entwickeln zu können. Der Bund liefert mit dem vorliegenden Bericht leider nicht die dringend nötige fundierte Analyse zum Verkauf und Verbleib von Textilien in der Schweiz.
Berichterstattungspflicht als Hebel
Immerhin: Der Bericht nennt einen Hebel, mit dem sich zumindest etwas mehr Licht ins Dunkle bringen liesse. «Um genauere Zahlen zu erheben und um die Mengen nach Verwertungskanal zu bestimmen, könnte eine Berichterstattungspflicht eingeführt werden». Eine Rechtsgrundlage dafür sei im Umweltschutzgesetz (Art. 46 USG) vorhanden, der zusätzliche Aufwand für Unternehmen gering und die Massnahme demnach verhältnismässig. Eine solche Auskunftsplicht hat Public Eye schon länger vorgeschlagen; sie würde Transparenz und Klarheit über den Verbleib von Textilien schaffen. Zudem dürfte sie auch eine abschreckende Wirkung auf Vernichtungen haben. Die laufende Revision des USG muss genutzt werden, um diese Berichterstattungspflicht rasch durchzusetzen.
Auch ein direktes Verbot der Vernichtung von neuwertigen Waren (wie in unserem Appell für mehr Verantwortung und Transparenz im Modehandel gefordert), wie es in Frankreich und Deutschland bereits existiert, hält der Bericht prinzipiell für möglich. Er legt aber nahe, erstmal die Erfahrungen aus dem Ausland abzuwarten.
Gestalten statt hinterherhinken!
Diese zögerliche Haltung zieht sich leider wie ein roter Faden auch durch die Teile des Berichts, in denen verschiedene Möglichkeiten zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft diskutiert werden, welche die EU gerade auf den Weg bringt. Darunter eine Ökodesign-Verordnung, Informationspflichten und ein Produktepass über die Nachhaltigkeit von Waren und ein Recht auf Reparatur. Greenwashing und geplante Obsoleszenz sollen als unlautere Geschäftspraktiken gewertet und unterbunden werden. Was man daraus vor allem mitnimmt: Wie krass die Schweiz hinterherhinkt.
«Die Schweiz verfolgt die Entwicklung in der EU aufmerksam» ist das bekannte Mantra des Bundesrats, um bloss nicht selbst initiativ zu werden. Dabei offenbart der Bericht, wie gewaltig der Handlungsbedarf gerade in der Schweiz ist: «Die Schweizer Privatwirtschaft steht noch am Beginn des Transformationsprozesses: zwischen 8% und 12% der Unternehmen beschäftigt sich substanziell mit der Transformation hin zu einer Kreislaufwirtschaft.» Statt länger abzuwarten, sollten Bundesrat und Parlament den Prozess mit klaren politischen Leitplanken aktiv gestalten.
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