Weshalb «Freiwilligkeit» Kinderarbeit auf Kakaoplantagen nicht beenden wird
Zürich / Lausanne, 1. Dezember 2020
Alle zwei Jahre zieht das zivilgesellschaftliche Netzwerk VOICE (Voice of Organisations in Cocoa) gemeinsam mit weiteren NGOs im sogenannten Kakaobarometer Bilanz über die Entwicklungen im globalen Kakao- und Schokoladesektor. Einmal mehr fällt das Fazit ernüchternd aus: Trotz jahrzehntelanger Versprechen der Industrie, die menschenrechtliche und ökologische Situation im Kakaoanbau durch freiwillige Massnahmen verbessern zu wollen, hat sich für die meisten Kakaobäuerinnen und -bauern wenig geändert.
1,5 Millionen Kinder arbeiten unter missbräuchlichen Bedingungen
Bei der Kinderarbeit kommt der brisante Bericht des National Opinion Research Center der Universität Chicago (NORC) zu einem klaren Befund: 1,5 Millionen Kinder arbeiten nach wie vor unter missbräuchlichen Bedingungen im westafrikanischen Kakaoanbau. 95% davon üben dabei Tätigkeiten aus, die zu den schlimmsten Formen von Kinderarbeit zählen – etwa das Ausbringen von Pestiziden, das Ernten mit Macheten oder das Tragen schwerer Lasten.
Angesichts dieser erschreckenden und unhaltbaren Realität mutet das Mantra vieler Firmen – «Kinderarbeit hat in unserer Lieferkette keinen Platz» – sehr zynisch an. Vor allem, wenn man bedenkt, wie lange die Industrie schon Besserung verspricht. Bereits 2001 unterzeichneten zahlreiche Kakaofirmen, darunter auch Nestlé und der weltgrösste Schokoladekonzern Barry Callebaut mit Hauptsitz in Zürich, das Harkin-Engel-Protokoll. Darin verpflichteten sie sich freiwillig, bis 2005 Massnahmen zur Beseitigung von Kinderarbeit zu ergreifen.
Freiwillige Massnahmen haben wenig gebracht
Erreicht wurden diese Ziele nicht, und die Situation in Ghana und in der Côte d‘Ivoire dürfte sich seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie noch drastisch verschlechtert haben. Die Multistakeholder-Plattform International Cocoa Initiative schätzt, dass die Kinderarbeit als Folge der Pandemie um bis zu 20% ansteigt – das sind zusätzlich 300‘000 Kinder.
Und wie reagieren die Kakao- und Schokoladefirmen? Die World Cocoa Foundation, der globale Branchenverband, stellt sich auf den zynischen Standpunkt, die Ziele des freiwilligen Harkin-Engel-Protokolls seien damals zu ambitioniert gewesen, da die Komplexität des Problems nicht bekannt gewesen sei.
Dieses Argument ist höchst erstaunlich – nicht zuletzt angesichts der bereits 2005 in den USA eingereichten Klage gegen Nestlé und Cargill wegen Beteiligung an Kindersklaverei in der Côte d’Ivoire. Nach jahrelangem juristischem Hick-Hack findet am 1. Dezember 2020 die Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof der USA statt. Während die beiden Unternehmen zwar anerkennen, dass es in der Branche zu Kindersklaverei kommt, weisen sie jegliche Verantwortung dafür von sich. Ob der Oberste Gerichtshof überhaupt auf die Klage eintritt und den sechs ehemaligen Kindersklaven aus Mali nach über 15 Jahren endlich die Möglichkeit gibt, ihren Fall vor Gericht zu verhandeln, wird spätestens im Sommer 2021 klar sein.
Keine Existenzsicherung durch Labels
Freiwilligkeit, z.B. in Form nationaler Kakaoplattformen oder Labels, wird Kinderarbeit im Kakaoanbau auch in Zukunft nicht beenden. Es bräuchte vielmehr ein Bekenntnis zu sowie konkrete erste Schritte zu einem existenzsichernden Einkommen für die kakaoanbauenden Familien. Auch Labels vermögen da nicht systematisch weiterzuhelfen. 2018 verdienten gemäss einer von Fairtrade International in Auftrag gegebenen Studie nicht einmal 10% der zertifizierten Bauernfamilien in der Côte d’Ivoire ein existenzsicherndes Einkommen – trotz Mindestpreis und Prämie.
Solange die kakaoanbauenden Familien in Armut leben, nur unzureichenden Zugang zur Bildung und zum Gesundheitssystem sowie kaum politische Teilhabe haben, wird auch die Kinderarbeit nicht überwunden werden. So kommt denn auch der Kakaobarometer 2020 zum Schluss: Wenn sich Bauernfamilien entscheiden müssen, ob sie ihre Kinder ernähren oder zur Schule schicken sollen, ist das keine Wahl.
Weder Macht noch Wertschöpfung
Und genau das ist das Problem:
Die kakaoanbauenden Familien haben keine Verhandlungsmacht gegenüber Kakaohändlern und Schokoladefirmen.
Sie erhalten den kleinsten Teil an der gesamten Wertschöpfung – gemäss einer neuen Studie der französischen NGO Le Basic nur 7,3% des Verkaufspreises einer Tafel Milchschokolade. Schokoladehersteller erhalten deutlich mehr (27,3%); am meisten schöpfen die Detailhändler ab (38,5%). Gross sind für die Kakaobäuerinnen und -bauern einzig die Risiken, die sie tragen, z.B. Ernteausfälle oder die Volatilität der globalen Kakaopreise.
Macht und Wertschöpfung sind entlang der gesamten Produktionskette von Kakao extrem ungleich verteilt – zu Ungunsten der Bäuerinnen und Bauern. Die Profiteure, die Kakao- und Schokoladefirmen, sind nicht willens, daran etwas zu ändern und einen Teil ihres massiven Profits dafür einzusetzen, den Kakaobäuerinnen und -bauern einen existenzsichernden Lebensunterhalt zu gewährleisten. Im Gegenteil: Die Wurzel der Probleme wird im Anbau verortet und so den Bauernfamilien die Verantwortung für deren Lösung zugeschoben. Diese Sichtweise ist ebenso unzureichend wie schädlich, denn die Probleme in der Produktion sind nicht die Wurzel allen Übels, sondern ein Symptom eines zutiefst unfairen Systems.
Die besondere Verantwortung der Schweiz
Es braucht deshalb dringend einen Systemwandel – strukturelle Änderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Kakao, damit die Menschenrechte der kakaoanbauenden Familien sowie die Umwelt systematisch geschützt werden. Die Schweiz ist Sitzstaat zahlreicher Schokoladefirmen und einer der grössten Handelsplätze für Kakao weltweit:
Mindestens 30% aller Kakaobohnen werden von hiesigen Unternehmen gehandelt. Der Schweiz kommt somit eine besondere Rolle zu.
Es ist höchste Zeit, dass sie ihre Verantwortung wahrnimmt. Auch die Zustimmung der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung zur knapp am Ständemehr gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative zeigt, dass die Zeit der «Freiwilligkeit» abgelaufen ist und verbindliche Sorgfaltspflichten für die Agrarrohstoff-Branche gefragt sind.
Weitere Informationen: