Zehn Jahre WTO: Legitimitätsprobleme statt Geburtstagsparty
7. April 2006
1995, nach zähen, achtjährigen Verhandlungen, wurde die World Trade Organisation WTO mit Sitz in Genf gegründet. Die WTO ist die institutionelle Erweiterung des 1948 abgeschlossenen Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), das den fortschreitenden Zollabbau im Güterhandel auch heute noch regelt. Zusätzlich zum GATT unterzeichneten die Handels- und Wirtschaftsminister mit der Gründung der WTO verschiedene neue Abkommen, die für den Welthandel mit Landwirtschaftsprodukten und Dienstleistungen sowie für Investitionstätigkeiten und das Geistige Eigentum Regeln festlegten. Der Einbezug solch neuer Bereiche bedeutete eine massive Ausweitung und Aufwertung der Handelspolitik. Grundlegende wirtschaftspolitische Entscheide sollten fortan auf der internationalen Ebene getroffen werden. Dies bedeutet für die einzelnen Länder eine Beschneidung des Handlungsspielraums auf der nationalen, regionalen und kommunalen Ebene.
Hatte die WTO 1995 erst 128 Mitglieder, sind der WTO bis zum Jahr 2005 20 neue Länder beigetreten. Von den gegenwärtig 148 Mitgliedern sind über 100 Staaten Entwicklungsländer. Zahlenmässig haben demnach die Entwicklungsländer in der WTO ein grosses Gewicht. Wenige von ihnen haben jedoch nach 10 Jahren einen Grund zum Feiern, denn aus entwicklungspolitischer Sicht zeigen sich sowohl an der Institution als an deren Politik folgende grundlegende Mängel:
Auf Theorien beruhende Annahmen
Die WTO baut auf die Annahme, dass Handelsliberalisierung – die Öffnung der Märkte durch den Abbau von Zöllen sowie die Beseitigung von Importquoten und staatlicher Unterstützung – Wachstum und Wohlstand für die Bevölkerung führe. In den letzten Jahren bezweifeln aber selbst Ökonomen, dass Handelsliberalisierung per se zu Wachstum führt. Untersuchungen belegen, dass die Wachstumsraten zwischen 1960 und 1980, als die Märkte noch durch staatliche Eingriffe geschützt waren, deutlich höher waren als in der Periode 1980 bis 2000. Wachstum allein garantiert keine Besserstellung der ärmeren Bevölkerung. Dazu braucht es aktive Umverteilungsmassnahmen der Regierung, deren Handlungsspielraum aber wiederum durch die WTO beschnitten wird.
WTO verunmöglicht angepasste Lösungen
Der WTO stützt sich auf drei Grundprinzipien, die sich allein auf die Geschäftsinteressen international tätiger Unternehmen ausrichten. Damit wird die absurde Gleichung aufgestellt, dass das, was für internationale Unternehmen das beste ist, auch der Bevölkerung im Gastland zugute kommt.
- Das Prinzip «Marktzugang»: Der erleichterte Marktzugang soll Unternehmen, die international Handel betreiben, grössere Absatzchancen und Gewinne garantieren. Die Entwicklungsländer müssen ihre Märkte für ausländische Produkte und Investoren öffnen. Bei den Investoren handelt es sich zumeist um wettbewerbsstarke multinationale Konzerne, mit deren billig produzierten Produkten lokale Betriebe in einem Entwicklungsland in Konkurrenz treten müssen. Dass die Menschen im Gastlast von den Unternehmergewinnen der Investoren profitieren können, stimmt lediglich dann, wenn der Staat dafür sorgt, dass diese Gewinne auch im Gastland verbleiben und sinnvoll investiert werden (z.B. Ausbau der Grundversorgung für alle, Schaffung von Arbeitsplätzen Aufbau neuer Produktionszweige) . Regulierungen dieser Art sind jedoch durch die WTO verboten.
- Das Prinzip «Inländerbehandlung»: Ausländische Produkte und Investoren müssen gleich behandelt werden wie inländische. Konkret heisst dies, dass lokale AnbieterInnen nicht mehr bevorzugt und eigene Produkte nicht speziell gefördert werden dürfen. Dies schränkt lokale Förderungs- und Subventionsmöglichkeiten für Entwicklungsländer stark ein.
- Das Prinzip «Meistbegünstigung»: die Meistbegünstigung verlangt, dass eine Begünstigung, die einem Investor gewährt wird, auch anderen Investoren gewährt werden muss. Dies verhindert die Möglichkeit, besonders soziale und ökologische Unternehmen und Produkte bevorzugen zu können.
Gleiche Regeln für ungleiche Partner?
Für alle Länder, unabhängig von ihrer ökonomischen Entwicklung, sollen die oben erwähnten drei Prinzipien gelten. Gleiche Regeln für ungleiche Partner? Diese Gleichung geht nicht auf. Eine eigenständige, jedem Land gemässe Entwicklung wird behindert.
Den Entwicklungsländern, insbesondere den ärmsten Ländern, wird zwar eine spezielle Behandlung zugestanden, diese besteht jedoch lediglich darin, dass längere Fristen angesetzt werden, bis wann die WTO-Verpflichtungen umgesetzt werden müssen. Das Modell selbst wird nicht in Frage gestellt.
Lebensrealitäten von Frauen werden ausgeblendet
Die der WTO zugrunde liegende Theorie geht davon aus, dass Frauen und Männer von einem liberalisierten Welthandel denselben Nutzen haben. Sie ignoriert damit die Tatsache, dass sich die Voraussetzungen der Frauen von denjenigen der Männer stark unterscheiden. Insbesondere in südlichen Ländern haben Frauen weniger Zugang zu Krediten, Land und Bildung. Ihre Mobilität ist durch Familienverpflichtungen stark eingeschränkt. Ihr Alltag wird von unbezahlter Arbeit geprägt. Diese Arbeit, die laut dem Bericht über die menschliche Entwicklung bereits 1995 über 11 Milliarden Dollar betrug, ist ein grundlegender Teil der Weltwirtschaft. Sie wird aber in der internationalen Handelstheorie völlig ausgeblendet.
WTO und fehlende Demokratie
Formell ist die WTO eine demokratische Organisation. Sowohl im höchsten Entscheidungsgremium, der alle zwei Jahre stattfindenden Ministerkonferenz, als auch in allen anderen Gremien, wo sämtliche Mitgliedländer vertreten sind. Entscheidungen sollen im Konsens gefällt werden. Der Konsens gilt als erreicht, wenn keiner der bei einem Treffen anwesenden VertreterInnen einem Vorschlag widerspricht. Angesichts der grossen Zahl von Sitzungen der verschiedenen Gremien (etwa 1000 pro Jahr) ist es für kleine Delegationen unmöglich, bei jeder Sitzung anwesend zu sein. Während die Industrieländer zwischen 12 und 25 VertreterInnen in Genf haben, haben die meisten Entwicklungsländer weniger als 10, die meist noch für die zahlreichen in Genf angesiedelten UN-Organisationen zuständig sind. 25 WTO-Mitglieder haben überhaupt kein Büro in Genf. Zudem finden wichtige Sitzungen oft im informellen Rahmen statt, diese werden Greenroom-Treffen genannt. Immer öfters treffen dort mächtige Länder in kleinen Gruppen Vorentscheide, die danach allen anderen unterbreitet werden. Im Juli 2004 musste auch die Schweiz zum ersten Mal die schmerzhafte Erfahrung machen, von Verhandlungen ausgeschlossen und danach mit ausgearbeiteten Vorschlägen konfrontiert zu werden. Immerhin hat sich die Zusammensetzung dieser Gruppen in der jüngsten Zeit geändert: hatte vorher die so genannte Quad (die USA, EU, Kanada und Japan) das Sagen, gehören heute auch grosse Entwicklungsländer wie Brasilien und Indien zur Kerngruppe. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die meisten Länder mit ihren Anliegen nicht vertreten fühlen.
Warum in die WTO?
Trotz dieser vielen negativen Punkte und Unzulänglichkeiten sprechen sich viele Regierungen südlicher Länder nicht gegen die WTO aus, 19 Entwicklungsländer befinden sich zurzeit in Beitrittsverhandlungen. Aus Regierungssicht mögen folgende Gründe für einen Beitritt zur WTO sprechen: Die WTO ist die Organisation, in der die internationalen Handelsregeln festgelegt werden, da mag es wichtig erscheinen, dazuzugehören. Manche erhoffen sich Möglichkeiten für neue Märkte. Kleinere Entwicklungsländer stehen zudem unter grossem Druck von Entwicklungshilfegebern, die eine Mitgliedschaft nahelegen. Viele Entwicklungsländer versuchen, durch einen WTO-Beitritt als Standort in der globalen Produktionskette attraktiver zu werden und erhoffen sich dadurch vermehrt Investitionen.
Zusätzlich bietet die WTO Entwicklungsländern die Möglichkeit, Allianzen einzugehen. Diese Zusammenarbeit hat sich vor allem im Hinblick auf die fünfte WTO-Ministerkonferenz 2003 in Cancun (Mexiko) ausgewirkt. Gemeinsam konnten die Entwicklungsländer ein von den Industrieländer geplantes Investitionsabkommen verhindern.
Dringend benötigte Alternativen
Da sich der Handlungsspielraum aufgrund des grossen Drucks von Industrieländern stark verengt, schliessen Entwicklungsländer zunehmend Handelsabkommen mit anderen Entwicklungsländern ab, so genannte Süd-Süd-Abkommen. Mögen viele den Zusammenarbeitsplänen beispielsweise Venezuelas mit Kuba kritisch gegenüber stehen, lohnt es sich, über deren Prinzip nachzudenken: anstatt Konkurrenz zwischen den Ländern und Produktionszweigen zu fördern, wird zwischen den beteiligten Ländern ein System der Kooperation angestrebt.
Die Zivilgesellschaft spielt bei der Definition von Alternativen, sowohl in den einzelnen Ländern als auch im globalen Zusammenschluss, eine wichtige Rolle. Es geht darum, die ökonomischen Theorien, die hinter dem WTO-Modell stehen, radikal zu hinterfragen und mit zahlreichen Beispielen die negativen Konsequenzen aufzuzeigen. Es müssen Handelsregeln definiert werden, die den einzelnen Ländern den dringend notwendigen Spielraum gewähren, um lokale und regionale Entwicklungen zu garantieren und eine gesunde Mischung zwischen der Teilnahme am Welthandel und der Förderung kleinräumiger Wirtschaftskreisläufe zu finden. Im Zentrum muss das Wohl und die Handlungsfähigkeit insbesondere der ärmeren Bevölkerung sowie der Umwelt stehen.