«Deal making» auf Kosten von Menschenrechten und Umwelt
Angela Mattli, 6. Mai 2024
Mit medialem Paukenschlag verkündet Bundesrat Parmelin an einem regnerischen Sonntag Mitte März pünktlich zum Morgenkaffee: «We have a deal!» Nach einem 16-jährigen Verhandlungsmarathon ist das Freihandelsabkommen EFTA/Indien nun unter Dach und Fach. Das hat viele Beobachter*innen überrascht. Denn lange war unklar, ob die EFTA mit Indien eine Einigung im Patentschutz finden wird. Mit Auflagen wie Datenexklusivität und Patentschutzverlängerungen hatte sich die EFTA jahrzehntelang für die Interessen der Pharmakonzerne stark gemacht. Dies hätte die Herstellung und den Vertrieb von Generika stark verzögert und verteuert – mit massiven Konsequenzen für das Menschenrecht auf Gesundheit. Schliesslich gilt Indiens Generikaindustrie nicht umsonst als «Apotheke der Armen».
Champagnerstimmung kommt bei mir an diesem Sonntag trotzdem nicht auf. Denn das Abkommen enthält weiter problematische Aspekte, die über die üblichen WTO-Standards hinausgehen und darauf abzielen, Schutzklauseln für die öffentliche Gesundheit, an denen Schweizer Pharmakonzerne schon mehrmals gescheitert sind, systematisch abzuschwächen. Um das Abkommen umzusetzen, hat Indien denn auch rasch die nationale Gesetzgebung angepasst und die rechtliche Möglichkeit, unverdiente oder missbräuchliche Patente anzufechten, aufgeweicht. Anand Grover, ehemaliger UN-Gesandter für das Recht auf Gesundheit, befürchtet dadurch eine massive Verteuerung der Medikamente.
Zudem hat die EFTA im Gegensatz zur EU (die übrigens, wie Grossbritannien, weiter auf den Abschluss des Abkommens wartet) vorgängig keine menschenrechtliche Wirkungsanalyse erstellt. Damit untergräbt der Bundesrat seine in der aussenwirtschaftlichen Strategie formulierte Absicht, «Einschätzungen im Vorfeld wichtiger Wirtschaftsabkommen (Ex-ante-Analysen) durchzuführen».
Zahnloses Nachhaltigkeitskapitel als Dealmaker?
Im Freihandelsabkommen findet sich zwar ein Nachhaltigkeitskapitel, das dem EFTA-Standard entspricht. Ein Grund zur Freude ist aber auch das nicht. Denn ausgerechnet die darin definierten Bestimmungen sind explizit von der im Abkommen vorgesehenen Schiedsgerichtsbarkeit ausgenommen. Und damit rechtlich nicht durchsetzbar. Im Fall von Verstössen setzt die Schweiz ausschliesslich auf Konsultationen. Hier hat die EU deutlich nachgebessert: Seit 2022 verfolgt sie in ihren Handelsabkommen bei gewissen Nachhaltigkeitsthemen wie Klimawandel und Arbeitsrechte einen sanktionsbasierten Ansatz.
Für Stirnrunzeln sorgt in Politik und Öffentlichkeit auch die Verpflichtung der EFTA-Staaten, in den nächsten 15 Jahren 100 Milliarden US-Dollar in Indien zu investieren und 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen – dies jedoch ohne Auflagen in Bezug auf Nachhaltigkeit. Dies ist hochproblematisch. Somit wird im Abkommen ein Blankoscheck für Investitionen erteilt, ohne diese an Bedingungen zu koppeln. Ob diese Investitionen von der Privatwirtschaft eingehalten werden, bleibt offen. Die EFTA-Staaten sind ja bekanntlich nicht planwirtschaftlich organisiert.
Dumping als Verhandlungsstrategie
Bleibt die Frage: Ist das Freihandelsabkommen mit Indien ein Erfolg des vielgerühmten Schweizer Verhandlungsgeschicks? Oder konnte die EFTA im Rennen um dieses Freihandelsabkommen die EU dank ihren unverbindlichen Nachhaltigkeitskapiteln überrunden? Alles Zufall? Mitnichten.
EFTA bei Mercosur auf Poleposition
Das Unterbieten von Menschenrechts- und Umweltstandards scheint auch im wiederbelebten Mercosur-Abkommen Schule zu machen. Lange Zeit schon fast tot geglaubt, nehmen die Verhandlungen zwischen der EFTA und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela wieder an Fahrt auf. So verkündete Wirtschaftsminister Parmelin am WEF, dass dieses wichtige FHA noch Ende dieses Jahres zum Abschluss kommen könnte. Auch hier hat die EFTA die EU von der Poleposition verdrängt. Ob es am unverbindlichen Nachhaltigkeitskapitel liegt? Ein Schelm, der Böses denkt.
Der grosse Preis heisst China
Und die Schweiz gibt weiter Gas. Diesmal jedoch allein und nicht im EFTA-Seitenwagen. Der grosse Preis heisst China. Ziel ist eine Modernisierung des Freihandelsabkommens, das dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag feiert. Konkret wollen China und die Schweiz das Abkommen auf die Bereiche Finanzen, digitale Wirtschaft und grüne Entwicklung ausweiten und die Zölle weiter senken. Die Schweiz verfügt als einziges kontinentaleuropäisches Land über ein Abkommen mit dem Reich der Mitte. Und was Wunder: Im Gegensatz zu den FHA mit Indien und dem Mercosur werden die Menschenrechte hier mit keinem Wort erwähnt. Diametral anders verhält sich die EU mit ihrer so genannten «De-Risking Strategie». Deren Ziel ist es, dass Europa gegenüber China seine wirtschaftliche Sicherheit gewährleisten kann. Diesen März hat das EU-Parlament zudem ein Importverbot von Produkten aus Zwangsarbeit verabschiedet. Im Frühling 2021 hatte es aufgrund der Menschenrechtssituation der Uigur*innen in Xinjiang bereits thematische Sanktionen gegenüber China erlassen. Ob sich die Schweiz mit ihrem prinzipienlosen Opportunismus handelspolitisch ins Abseits manövriert, wird sich zeigen. Denn was gerne vergessen geht, ist ihre Abhängigkeit von der EU als ihrem wichtigsten Handelspartner.
«The problem is a lot of what is called economics is not economics. It is more ideology or religion.» Joseph Stiglitz
Angela Mattli ist Co-Geschäftsleiterin und leitet den Fachbereich Rohstoffe, Handel und Finanzen.
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