Die Mär von der linken Schweizer Journaille
Oliver Classen, 9. Dezember 2020
Je grösser das Medienecho, desto höher die Stimmbeteiligung: Wenn Ihnen diese Gleichung bis dato auch höchst plausibel, ja geradezu zwingend erschien, dann hat uns der vorletzte Sonntag eines Besseren belehrt. Mit 47% Stimmbeteiligung mobilisierte die Konzernverantwortungsinitiative zwar gut, blieb aber deutliche und vermutlich entscheidende 12% hinter dem «Super Sunday» vom 27. September zurück. Dies obwohl (oder weil?) sich die Redaktionen die Finger wund schrieben: Mit über 700 Beiträgen in elf Wochen generierte die KVI ein mächtigeres Rauschen im Blätterwald als irgendeine andere von der Forschungsstelle für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich seit 2014 ausgewertete Abstimmung, inklusive Selbstbestimmungs- und Begrenzungsinitiative.
Diese immense Resonanz verdankte sich leider nur zum Teil der gesellschaftspolitischen Relevanz des Anliegens der Initiative. Entscheidend für die mediale Dynamik war auch die zunehmend schrille Tonalität der Debatte. «Wie konnte diese Kampagne derart entgleisen?», fragte der Tagesanzeiger zwei Wochen vor der Abstimmung halb lust-, halb vorwurfsvoll (und generierte damit über 300 Leserkommentare). Solch redaktionelle Empörung hat freilich immer einen heuchlerischen Unterton. Denn je gröber die gegenseitigen Fake-News-Vorwürfe, je hässlicher die Propaganda-Videos und je gezielter auf bestimmte Personen oder Organisationen geschossen wird, desto höher die Klick-Zahlen, Einschaltquoten und Kiosk-Verkäufe.
Ob es uns gefällt oder nicht: Diesem fiesen Skandalisierungsprinzip gehorcht die menschliche Aufmerksamkeit. Und damit auch die Medienökonomie. Deshalb war auch die «Trumpismus»-Warnung der Republik ein zweischneidiges Schwert. Schliesslich profitierten just jene linksliberalen Tageszeitungen, Websites und News-Kanäle am meisten vom Noch-US-Präsidenten, die dessen an Polit-Pornographie grenzenden Populismus am heftigsten kritisierten. Die Sonntagszeitung brachte dieses publizistische Paradox in ihrer letzten Ausgabe auf den wunden Punkt: «Wenn Joe Biden im Weissen Haus einzieht, kommen auf Amerikas Medien härtere Zeiten zu.»
Überraschend am Abstimmungsmonitor des fög ist aber nicht nur, wie viel über die Konzernverantwortungsinitiative berichtet wurde, sondern auch in welcher Tonalität. Diese war in der Deutschschweiz nämlich überwiegend negativ. Und das bei einem dezidiert progressiven, von NGOs lancierten Volksbegehren. Spätestens seit der No-Billag-Attacke gegen eine vermeintlich rotgrün versiffte SRG vor drei Jahren ist die rechtsbürgerliche Mär von der linken Journaille ja ein gängiges Berufsklischee. Ironischerweise glänzte bei der KVI-Coverage nun ausgerechnet das viel gescholtene SRF durch völlige Ausgewogenheit, was dessen Chefredaktor denn auch entsprechend gefreut hat. Ähnlich neutral verhielt sich – in der Summe und trotz grosser interner Polarität – nur noch der Tagesanzeiger.
Die Ringier-Redaktion (Blick) hingegen huldigte ihrer ehernen Boulevardlogik. Nach dem Prinzip «Wer mit uns im Lift hochfährt, den fahren wir damit auch wieder runter» kamen in der heissen Phase kaum mehr NGOs, dafür aber umso mehr CEOs zu Wort. In Interviews durften Glencore und Nestlé die Volksseele seitenweise gegen mehr Konzernverantwortung impfen. Auch der zur (Gegen-)Kampagnenleiterin mutierten Justizministerin, Karin Keller-Sutter, wurde eine Plattform und kaum Paroli geboten. Die NZZ war wohl wählerischer in der Wortwahl, agitierte aber genauso einseitig und betrieb mit der Triumph-Schlagzeile «Schweiz sagt Nein zu leeren Versprechen» selbst nach geschlagener Schlacht weiter Propaganda statt Journalismus.
Parallel zu solcher Stimmungsmache wurde es, je näher der 29. November rückte, desto unmöglicher, der breiten Bevölkerung die konkreten durch Schweizer Konzerne verursachten Missstände zu zeigen. Und die Debatte so auf jene Probleme zurückzuführen, um die es bei der Konzernverantwortungsinitiative ursprünglich mal gegangen ist. Unsere brisante Reportage über Menschenrechtsverletzungen in einer bolivianischen Glencore-Mine etwa wurde von den Schweizer Leitmedien geflissentlich ignoriert. Zugleich unterstellte die NZZ am Sonntag ihrem eigenen Berufsstand, sich durch unsere Kampagne – und speziell die Medienarbeit von Public Eye – über Jahre hinweg manipuliert haben zu lassen. Wie grotesk dieser Vorwurf ist (oder wie viel erfolgreicher Economiesuisse & Co. gegenmanipuliert haben), zeigt leider das dezidierte Jein zur Konzernverantwortungsinitiative vom Abstimmungssonntag.
«Als Sprachrohr, Spin Doktor und Schreiberling weiss ich: Die Wahrheit ist ein Näherungswert, keine Ansichtssache. Guter Journalismus weiss und zeigt das.»
Oliver Classen ist seit über zehn Jahren Mediensprecher von Public Eye. Zudem schrieb er am Rohstoff-Buch mit und koordinierte mehrere Jahre die Public Eye Awards (2000-2015) in Davos. Vorher arbeitete er für verschiedene Zeitungen, darunter die Handelszeitung und der Tagesanzeiger.
Kontakt: oliver.classen@publiceye.ch
Twitter: @Oliver_Classen
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