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Am Tag drei nach der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative treiben mich immer noch zwei Zahlen um: 50,7 und 5949. Was jetzt - soll ich mich freuen über das knappe Volksmehr oder ärgern, dass uns so wenig Stimmen fürs Ständemehr gefehlt haben? Normalerweise, wenn ich mich nicht entscheiden kann, mache ich Listen: Grrr oder Yippieh, was überwiegt?

Hier also meine grössten Aufreger und Aufsteller aus dem Abstimmungskampf und danach.

Grrr-Liste

  • KKS: Warum nur gab es 2019 einen Departementswechsel? Er machte den Weg frei für bundesrätliches Campaigning, und zwar in einem solchen Ausmass, dass sich mir dieselbe Frage aufdrängte, wie jeweils während des amerikanischen Wahlkampfs: Wer regiert eigentlich das Land (bzw. das Departement), während die Führungsfigur nur noch auf Rallies (bzw.Podien) rumturnt?
  • KMU: Die Lüge per se – wir wussten, dass das kommt. Haben alles dagegen getan, sogar ein Umsetzungsgesetz geschrieben, verfangen hat sie trotzdem.
  • KKSKMU: Eine toxische Mischung. Denn es gibt immer noch über 200 Regional- und Lokalzeitungen in der Schweiz, wie die «Botschaft» oder den «Prättigauer und Herrschäftler». Berichte über Podien mit der Justizministerin, gepaart mit Interviews von aufmunitionierten KMU-Patrons, haben uns wohl besonders geschadet.
  • Rudi the Nose: Sorry für das vorweihnächtliche Wortspiel (selber Schuld, jetzt läuft mir «rudi the red nosed reindeer» nach). Als ob das Abschiessen des Gegenvorschlags des Nationalrats und seine Rolle als Sprachrohr von furrerhuginoser nicht schon genug gewesen wäre. Im Zusammenhang mit seinem Vorstoss, die Steuerbefreiung von NGOs abzuschaffen, spricht er im Ernst vom «Grundsatz, dass sich der Staat politisch neutral zu verhalten hat». KKSGrrrr!
  • Bildmanipulation: Zugegeben, zwei Bilder wurden kombiniert: Das Bild vom Mädchen, das in der Gemeinde lebt, wo die Bleibelastung der Kinder seit der Übernahme der Mine durch Glencore massiv zugenommen hat, mit dem Bild ebendieser Mine. Ist das Irreführung? Ich warte gespannt darauf, dass die Nestlé-Werbung in Zukunft nur noch ECHTE Schweizer Familien in ihrer versifften Küche zeigt.
  • «Moral»: In der Sauce der Vorhaltungen, dass wir moralisch seien, hat die NZZ das letzte Wort. Und das ist echt das Allerletzte: Im Namen der Moral, schreibt sie, «wurden Bücher verbrannt». Die Nazis als Moralisten, Danke für die Geschichtslektion.
  • © Mark Henley/Panos Pictures
  • © Mark Henley
80'000 Fahnen färben die ganze Schweiz orange.

Yippieh-Liste

  • Märchen: Es war einmal vor langer Zeit, da trafen sich Frauen und Männer aus allen Teilen eines kleinen Landes, um Grosses zu planen. Das kleine Land war im eisernen Griff von mächtigen Sauriern, auf die es diese Frauen und Männer abgesehen hatten. Die Saurier lachten nur über das versprengte Grüppchen – sie sollten sich noch wundern.
  • Retraiten: Es war einmal vor langer Zeit… Als man sich noch wirklich treffen konnte, da waren die Planungsretraiten die Momente, in denen die Koalition am lebendigsten spürbar war. Dieses Bündnis wird – in der einen oder anderen Form – bleiben.
  • Orange: Mein absolutes Highlight war der Blick aus dem Zug kurz bevor die Bahnlinie in irgendeinem Kaff endete: 18 Kovi-Fahnen am Zaun eines Bauernhofes, wow.
  • Lokalkomitees: Zehntausende Menschen, die sich für eine Abstimmung engagieren, was für eine Power. Mein Favorit (aber stellvertretend für alle 450 Lokalgruppen) ist ein Komitee einer Gemeinde nahe von Zürich. Mitten im Dorfzentrum steht eine beindruckende Bausünde der Siebziger Jahre, mit ihren Läden der ideale Ort, um eine Standaktion zu machen. Nach der ersten Aktion wurde die Bewilligung für weitere verweigert – vom Verwaltungsrat der Bausünde, in welcher der SVP-Gemeindepräsident sitzt und ein Parteikollege als Präsident amtet. Das Lokalkomitee machte daraufhin gleich eine eigene Kampagne und setzt sich auch nach der Abstimmung weiter für die Meinungsfreiheit im Dorf ein.
  • Seki: Unser Kampagnensekretariat, eine geballte Ladung aus politischem Instinkt, langer Erfahrung, beeindruckender Energie (wie in der Batterie-Werbung, die es früher mal gab: Es läuft, und läuft, und läuft). Es war mir eine Ehre, mit Euch arbeiten zu dürfen.
  • Noser als Loser: Ruedi steht hier wieder stellvertretend für alle, die den Satz «das Volk hat entschieden» aus ihrer Rede streichen mussten. In der Tagesschau nahm er den Mund nicht mehr so voll wie 2019 («Das Volk wird die Initiative klar ablehnen»). Und wie er so fern seiner normalerweise zur Schau gestellten Überheblichkeit hilflos mit den Schultern zuckte, man musste schon fast Mitleid mit ihm haben.
  • Werdenberger und Obertoggenburger: Ein Leserbrief von Jugendlichen, die eben erst stimmberechtigt wurden: «Als junge Erwachsene müssen wir lernen, für uns selbst Verantwortung zu übernehmen. Weshalb sollen grosse Konzerne das nicht tun? Wir sind eine Generation, die nicht gleichgültig wegschaut, wenn Profit auf Kosten von Menschen gemacht wird.»

Die Listen haben gesprochen. Und überhaupt: 5949 ist 13,44 mal weniger als die 80‘000 hängenden Fahnen. Ab heute gibt es für mich nur noch 50,7% JA. Ein riesiger Erfolg und mächtiger Rückenwind für die weitere politische Arbeit für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Schweizer Konzerne für ihre Verfehlungen geradestehen müssen.

«Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit» (Mani Matter)

Andreas Missbach arbeitet seit 2001 zu Banken, Rohstoffhändlern und zur Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung der Menschenrechte. Langweilig wird ihm dabei nie und die Arbeit geht ihm leider auch nicht so schnell aus.

Kontakt: andreas.missbach@publiceye.ch
Twitter: @ahmissbach

Blog #PublicEyeStandpunkte

Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.  

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