Nestlé sorgt wieder mal weltweit für Entrüstung
Géraldine Viret, 2. Mai 2024
Die Neuigkeit, die Public Eye zusammen mit dem International Baby Food Action Network (Ibfan) veröffentlicht hat, sorgte weltweit für Schlagzeilen: Für Nestlé sind nicht alle Babys gleich. Dabei sieht Nestlé «in guter Nahrung die Kraft zu einem besseren Leben für alle… heute und für zukünftige Generationen». Doch besonders in einkommensärmeren Ländern müssen sich die zukünftigen Generationen bereits heute Sorgen um ihre Gesundheit machen, wenn der Konzern aus Vevey weiterhin ungestraft gegen die elementarsten erzieherischen (und ethischen) Grundsätze verstösst.
Grundsatz Nummer 1: «Stopfe dich nicht mit Süssigkeiten voll!»
In seinem Programm «Nestlé for Healthier Kids» (Nestlé für gesündere Kinder) rühmt sich das Unternehmen, «gesundes Essverhalten bei Kindern zu fördern». Doch wie unsere am 16. April publizierte Recherche «Nestlé macht Babys und Kleinkinder in einkommensärmeren Ländern zuckersüchtig» zeigt, ist dieses nicht ganz uneigennützige Engagement geografisch variabel. Denn in seinen Hauptmärkten in Afrika, Asien und Lateinamerika bindet der Nahrungsmittelriese die Kund*innen bereits in der Wiege an sich, indem er sie diskret mit Zucker vollstopft, was im krassen Widerspruch zu den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation steht.
In Indien zum Beispiel schaufeln Eltern ihren Babys ab sechs Monaten fast 3 Gramm Zuckerzusatz pro Portion in den Mund, wenn sie ihre Süssen mit Cerelac füttern, einem von Nestlé als gesund beworbenen Getreidebrei. Noch mehr zugesetzten Zucker pro Portion gibt es mit etwa 6 Gramm in Senegal und mit 7,3 Gramm auf den Philippinen. In der Schweiz und den meisten europäischen Märkten werden vergleichbare Produkte hingegen stolz mit der Aufschrift «ohne Zuckerzusatz» versehen.
Die Enthüllungen wurden auch von zahlreichen Medien in den betroffenen Ländern aufgegriffen und haben eine Welle der Empörung ausgelöst. Stellvertretend für viele andere Sneha Mordani, Fernsehmoderatorin des Nachrichtenmagazins «India Today»: «Zählt die Gesundheit eines Kindes in einem weniger entwickelten Land etwa nicht?».
Ihre Frage ist zentral, zumal Indien zu den Ländern gehört, die am stärksten von der Adipositas-Epidemie betroffen sind, die heute weltweit mehr als eine Milliarde Menschen betrifft. Dies geht aus einer Studie hervor, die im März von der britischen medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlicht wurde. 2022 litten etwa 70 Millionen Erwachsene in Indien an Fettleibigkeit, und die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen (zwischen 5 und 19 Jahren) ist auf 12,5 Millionen explodiert. Zu den Hauptursachen gehört das wachsende Angebot an (ultra-)verarbeiteten Produkten, also das Kerngeschäft von Nestlé und Co., für welche die Länder mit tiefen und mittleren Einkommen die neuen Wachstumsmärkte darstellen.
«Eines ist klar», warnt Palki Sharma, eine andere indische Journalistin, die ihre Regierung in einem Video, das von der Nachrichtenseite «Firstpost» veröffentlicht wurde, zur Rede gestellt hat: «Ihr könnt nicht darauf vertrauen, dass multinationale Konzerne uns beschützen!»
Die Aktien von Nestlé India erlebten nach der Veröffentlichung unserer Recherche einen dramatischen Absturz. Gleichzeitig schwand das Vertrauen der Konsument*innen, die ihrem Ärger in den sozialen Netzwerken in Indien und anderswo freien Lauf liessen. In Senegal häuften sich die Aufrufe zum Rückzug vom Markt und zum Boykott von Nestlé-Produkten.
Angesichts des öffentlichen Unmuts kündigten die Behörden in Indien, Bangladesch und Nigeria die Einleitung von Untersuchungen an. Auf den Philippinen drückte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums seine Unterstützung für die Verabschiedung eines Gesetzentwurfs aus, der den Zusatz von Zucker in Babynahrung verbietet und derzeit im Senat diskutiert wird.
Grundsatz Nummer 2: «Erzähl keine Märchen!»
Rund 6300 Kilometer von Neu-Delhi entfernt, im berüchtigten «War Room» von Nestlé in Vevey, dürften auf den Bildschirmen des Teams, das auf das Krisenmanagement im Internet spezialisiert ist, dem sogenannten «Digital Acceleration Team», sämtliche Warnlampen aufgeleuchtet haben.
Die Nestlé-Zentrale in Vevey zögerte nicht, den Zuckerzusatz kleinzureden und hanebüchene Entschuldigungen anzuführen, um die nicht zu rechtfertigende Doppelmoral durch eine argumentative Pirouette vergessen zu machen:
«Unterschiede bei den Rezepturen in einzelnen Ländern hängen von verschiedenen Faktoren ab, darunter Vorschriften, Verbrauchertrends und auch die Verfügbarkeit lokaler Zutaten, was zu Angeboten mit weniger oder ohne Zuckerzusatz führen kann. Der Nährwert unserer Produkte für Säuglinge und Kleinkinder wird dadurch nicht beeinträchtigt.»
Kein Grund zur Panik also! Selbst wenn in der Schweiz und in allen Ländern mit hohem Einkommen Zuckermangel herrscht, werden Ihre geschätzten Nachkommen alles haben, was sie benötigen.
Angesichts solcher Argumente drängt sich eine äusserst unangenehme Frage auf: Hängt das Vorhandensein oder Fehlen von Fäkalien in den Flaschen von Perrier und anderen Mineralwassermarken des Konzerns auch von Verbrauchertrends und der lokalen Verfügbarkeit dieser Zutat ab?
Das hatte ich mir doch gedacht.
Grundsatz Nummer 3: «Übernimm Verantwortung!»
Das ist das Grundprinzip, das man seinen Kindern eintrichtert, sobald sie eine gewisse Vernunft entwickeln. Nestlé selbst rühmt sich damit, auf Taten statt schöne Worte zu setzen, indem der Konzern in Sachen Menschenrechte oder Umwelt proaktiv handelt. Doch jetzt, in flagranti ertappt, scheint das Mantra der gut bezahlten Kommunikationsspezialist*innen in Vevey aus einem in die Jahre gekommenen Lehrbuch für Corporate Social Responsibility (CSR) zu stammen: Stets halten wir die lokalen Gesetze und internationalen Standards ein. Angesichts des erheblichen Lobbyings, das der Konzern betreibt, damit diese schwach bleiben oder ihre Umsetzung begrenzte Wirkung zeigt, ist dieser Verweis allerdings noch zynischer als er eh schon ist.
Und was ist mit der ethisch und gesundheitspolitisch inakzeptablen Doppelmoral, die sich auch nicht durch eine selektive und marginale Reduktion des Zuckerzusatzes entschuldigen lässt? Vielleicht motiviert Nestlé ein Online-Kommentar zu einem Artikel der «Washington Post» dazu, endlich Verantwortung zu übernehmen:
«Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie meine Mutter mir sagt, dass wir keine Nestlé-Produkte kaufen, weil dieses Unternehmen Müttern und Babys in Afrika Schaden zugefügt hat.
Ich bin jetzt 50 Jahre alt. Es hat sich nichts verändert.»
«Mit zartem Herzen, aber spitzer Feder setze ich mir gerne eine Clownsnase auf und mime Hochstapler, um sie zu entlarven.»
Géraldine Viret, spezialisiert auf vergleichende Literaturwissenschaft und Unternehmenskommunikation, arbeitet seit fast zehn Jahren als Medienverantwortliche und Redakteurin für Public Eye. Viel Geduld und ein gewisses Mass an Ironie sind unabdingbar, um sich auch bei starkem Gegenwind für eine gerechtere Welt einzusetzen.
Kontakt: geraldine.viret@publiceye.ch
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Dieser Text ist eine Übersetzung des französischen Originaltextes.
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