Philanthropie kann keine Gerechtigkeit kaufen
Gabriela Hertig, 6. Mai 2021
Seit Mitte April auf Facebook, Twitter und Instagram: Posts von Freund*innen und Bekannten in Indien, die verzweifelte Suche nach Sauerstoffgeräten, Betten auf der Intensivstation, Medikamenten, Sauerstoff. Vor meinem inneren Auge der dichte Smog über Delhi, das Gefühl nicht richtig atmen zu können, der Gestank von Abgasen, vermischt mit dem Rauch, der von Feuern aufsteigt, in denen Abfall verbrannt wird. Einige Tage später die Bilder von Parkplätzen, auf denen die Covid-19-Toten verbrannt werden. Inzwischen darf man auch in der Stadt Bäume fällen, da es an Holz für die Kremationen mangelt.
Signal ist besser, schreiben Freund*innen. Nicht erst, seit die zweite Welle der Covid-19-Pandemie Indien so schlimm trifft, wissen sie, dass sie vorsichtig sein müssen mit kritischen Äusserungen zur Regierung von Narendra Modi, zur hindunationalistischen Partei BJP. Seit 2014 ist Modi an der Macht, 2019 wurde er wiedergewählt. Ich erinnere mich genau an den Wahlkampf und die Ungläubigkeit, als er das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde, die Konsternation beim zweiten Mal. Eingeschränkte Pressefreiheit, monatelanges Internet-Blackout im Kaschmir, das Hetzen gegen Minderheiten und politische Gegner*innen, die Polizei, die Proteste mit Schlagstöcken gewaltsam auflöst, die Festnahmen wegen Aufruhr und Landesverrat. Das sind meine Bilder, meine Erlebnisse aus dem Kontext, in dem ich mich in Indien während mehrerer Jahre als Studentin, auf Reisen und als Sozialanthropologin während meiner Forschung bewegt habe.
Seit meinem Arbeitsbeginn bei Public Eye, mitten in der Pandemie, haben wir uns mit dem Profit der Pharmaindustrie in der Krise und den Hamsterkäufen von Impfungen der reichen Länder befasst. Und mit der zwar leider nicht erstaunlichen, aber umso frustrierenderen Weigerung der Schweiz, die Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte während der Pandemie (TRIPS Waiver) und einen Wissenstransferpool (C-TAP) zu unterstützen. Damit könnte die Produktionskapazität von Covid-19-Impfungen und -Behandlungen erhöht und ein gerechter Zugang für alle Länder ermöglicht werden.
Wir fordern, dass die Schweiz diese Initiativen endlich unterstützt, anstatt weiter die Pharmaindustrie und ihre Profite zu schützen.
Angepriesen wird stattdessen Covax. Auch die Schweiz beteilige sich ja an diesem bei der WHO angesiedelten Verteilmechanismus, der durch Spenden reicher Länder finanziert ist. Gerne werden diese Wohltätigkeiten betont, doch die tatsächlichen Beiträge sind zur Zeit ein Tropfen auf den heissen Stein, und Covax ist genauso von der Impfstoffknappheit betroffen. Südafrika, das zusammen mit Indien den Antrag für den TRIPS Waiver eingereicht hat, bringt das Problem auf den Punkt: «Philanthropie kann keine Gerechtigkeit kaufen!» Mehr noch: Philanthropie versucht, Ungerechtigkeit zu kaschieren, und verstärkt dabei Ungleichheit und Abhängigkeit, anstatt eine postkoloniale Weltordnung zu hinterfragen und die Macht der Konzerne in Komplizenschaft mit reichen Ländern einzuschränken – auch wenn Bill Gates uns das Gegenteil weismachen will.
Das Versagen der indischen Regierung in der aktuellen Krise ist real. Genauso wie andere Machthaber eine erfolgreiche Bekämpfung von Covid-19 im Wettkampf der Nationen gepriesen haben, rühmte auch Narendra Modi den glorreichen Erfolg Indiens gegen Covid-19 am Weltwirtschaftsforum im Januar 2021. Genauso real ist, dass Indien den Export von Impfstoffen verboten hat, um zuerst die eigene Bevölkerung zu schützen. Verwunderlich ist das nicht im Kontext des aktuellen Nationalismus.
Das Exportverbot ist auch ein Symptom des Systems: Der grösste indische Hersteller war aufgrund einer intransparenten Lizenzvergabe von Astra Zeneca verpflichtet, einen Teil der Dosen an England zu liefern, anstatt dass diese für Indien und andere einkommensärmere Länder zur Verfügung stehen würden. Und schliesslich ist es genauso eine Realität, dass indische Pharma CEOs eben auch Pharma CEOs sind – mit dem Resultat, dass die Impfstoffe in Indien inzwischen zu unterschiedlichen Preisen an die Regierungen der Bundesstaaten und an private Spitäler verkauft werden, wo sich diejenigen eindecken können, die es sich leisten können. Wohlverstanden auch hier mit dem Segen der Regierung, die diese neue Preispolitik erlaubt.
Doch wenn reiche Länder aus ihren wohlig warmen Stuben das Versagen der indischen Regierung und das indische Exportverbot verurteilen, ist das nichts als heuchlerisch. Genauso sind es die Zusicherungen der Cassis‘ der Welt, die jetzt Hilfe nach Indien senden wollen.
Nochmals: Philanthropie kann keine Gerechtigkeit schaffen.
Statt jetzt bloss Hilfe nach Indien zu senden, braucht es eine grundlegende Änderung des Systems. Wäre die Schweiz ernsthaft engagiert, hätte sie sich seit Beginn für das temporäre Aussetzen der Privilegien des geistigen Eigentums und den Zugang zu Wissen einsetzen müssen. Nicht zuletzt, weil die Entwicklung von Covid-19-Impfungen durch massive öffentliche Subventionen ermöglicht wurde.
Doch auch in einer Pandemie stellt sich die Schweiz lieber schützend vor die Profite der Pharma-Konzerne. Humanitäre Hilfsgüter für 1 Million zu senden ist ein billiger Versuch, sich aus dem Desaster freizukaufen, das die Schweiz durch ihre politische Blockadehaltung mitverursacht hat.
«Während ich tanze, kann ich nicht urteilen. Ich kann nicht hassen, ich kann mich nicht vom Leben trennen. Ich kann nur fröhlich und ganz sein. Deshalb tanze ich.» Hans Bos
Als Sozialanthropologin interessiert Gabriela Hertig sich für das ganze Spektrum des alltäglichen Menschseins und Zusammenlebens. Damit nicht nur einige wenige bestimmen, in welchem System und unter welchen Bedingungen sich dieses entfalten kann, arbeitet sie seit 2020 im Bereich Gesundheitspolitik bei Public Eye.
Kontakt: gabriela.hertig@publiceye.ch
Twitter: @gabrielahertig
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Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.