Schweizer Nachhaltigkeitsstrategie: Tropfen auf den heissen Stein
David Hachfeld, 23. Februar 2021
1997 veröffentlichte der Bundesrat erstmals eine Strategie Nachhaltiger Entwicklung (SNE). Aktuell befindet sich der Entwurf zur sechsten Fassung in der Vernehmlassung. Im Grunde ist die SNE eine gute Idee: Sie bündelt die Leitlinien und Ziele, mit denen die Schweiz auf einen sozial und ökologisch nachhaltigen Pfad gebracht werden soll, «um die grossen Herausforderungen dieser Welt anzugehen». Ach, wenn es doch nur so wäre! Tatsächlich signalisiert der Bundesrat zwar Tatendrang, doch bei der Formulierung von Massnahmen bleibt er vage, und bei der Konkretisierung von Zielen und den Wegen dorthin hält er sich vornehm zurück. Die Wirkung der Strategie verpufft wie ein Tropfen auf dem heissen Stein.
Sensibilisierung als Wundermittel gegen den Konsuminfarkt?
Ein Beispiel: Seit 24 Jahren will der Bundesrat mit «verbesserten Produktinformationen» Konsumierende sensibilisieren, verantwortungsvoller zu konsumieren. Nun, die Schweizer*innen sind durchaus sensibilisiert und wissen um die ausbeuterische und umweltzerstörerische Produktion von Konsumgütern. Doch auch ein Vierteljahrhundert nach der ersten Strategie sind kaum aussagekräftige Informationen über Produktionsbedingungen etwa von Bekleidung verfügbar. Wäre es da nicht angebracht, Transparenz über Herstellungsbedingungen endlich verbindlich vorzuschreiben? Und vielleicht auch das Angebot oder zumindest die Werbung für besonders schädliche Waren und Dienstleistungen einzuschränken?
Der Bundesrat, Grossmeister im hartnäckigen Abwarten
Nun, wir bleiben optimistisch, denn man darf die Hartnäckigkeit des Bundesrates nicht unterschätzen. Denn ebenfalls seit 24 Jahren möchte er sich schon «für die Herstellung von Kostenwahrheit mittels Internalisierung externer Kosten» engagieren. Die Idee ist gut: Wer umweltschädlich produziert oder Folgeschäden für Menschen in Produktionsländern verursacht, soll diese Kosten tragen. Schon 1997 wollte der Bundesrat «Massnahmen unterstützen, die das Ziel haben, die Umweltkosten in den Produktpreisen zu internalisieren und die Transparenz der Produktionsmethoden zu fördern.» Wir haben gesucht, wirklich, wir haben uns angestrengt, aber leider kein Beispiel gefunden, wo es ernsthaft vorangeht. Bezüglich Nachhaltigkeit ist der Bundesrat ein Virtuose auf dem Feld der Politik-Mimikry:
Er signalisiert Problembewusstsein und Aktion, bewegt sich dann aber kaum, peinlich bedacht, bloss keinem Konzern auf die Zehen zu treten.
Die Welt retten, ohne unsere Lebensweise zu ändern?
Der Widerspruch zwischen Ansage und fehlender Konkretisierung zieht sich durch das ganze Strategie-Dokument:
- Ressourcen sollen nicht mehr übernutzt werden, doch bei den Massnahmen bleibt der Bund vage.
- Die Schweizerinnen und Schweizer sollen sich nachhaltiger ernähren, aber über den zu hohen Fleisch- und Milchkonsum schweigt sich der Bund aus.
- Unternehmen sollten verantwortlich geschäften, aber dazu verpflichten mag sie der Bund nicht. Er «fördert» und «unterstützt» lieber nur.
- Armut soll reduziert werden, ohne die wachsende Ungleichheit in der Welt und die Rolle der Schweiz dabei anzugehen.
Dabei benennt die Strategie die anstehenden Probleme eigentlich deutlich, etwa, dass der Ressourcenverbrauch pro Kopf in der Schweiz fast dreimal über einem global fairen und verträglichen Niveau liegt. Doch konkrete Ziele, die sich messen liessen, benennt er trotzdem kaum. Und wenn doch, z.B. bei der Reduktion von Treibhausgasemissionen, bleiben die Wege dorthin nebulös.
Nüchtern betrachtet ist der Bund mit seinen bisherigen Ansätzen komplett gescheitert: Obwohl Emissionsminderungen seit der ersten SNE auf der Agenda stehen, liegen unsere konsumbedingten pro-Kopf Emissionen seit 1997 praktisch unverändert bei 14 Tonnen CO2-Äquivalenten, während die Belastbarkeitsgrenze des Planeten bei lediglich 0,6 Tonnen liegt. Da verwundert es nicht, dass auch der letzte Evaluationsbericht zur SNE 2016-2019 feststellt, dass ihr Beitrag zur Gewährleistung einer kohärenten Politik für nachhaltige Entwicklung «bescheiden» bleibt. Eine diplomatisch verpackte, schallende Ohrfeige.
Gesucht: Ein neues Wohlstandsmodell
Die Schweiz, wie andere Industrieländer, trägt überdurchschnittlich viel zum Klimawandel bei und ist im Sinne der Klimagerechtigkeit verpflichtet, deutlich früher und schneller Emissionen zu reduzieren als ärmere Länder.
Ja, es ist ungemütlich auszusprechen, dass unser aktuelles konsumzentriertes Wohlstandsmodell auf globaler Ungleichheit und Ausbeutung beruht. Und dass es kein leichtes Nachsteuern, sondern eine Kehrtwende braucht. Umso wichtiger wäre es, ein Wohlstandsmodell zu skizzieren, welches wirklich zukunftsfähig und gerecht ist. Der Mangel an visionärer Kraft ist neben dem Mangel konkreter Ziele das grundlegende Versäumnis der Strategie Nachhaltiger Entwicklung.
Der Bund müsste ja nicht allein das Rad neu erfinden. Es würde erstmal reichen, wenn er zuhörte: nicht nur die klimastreikende Jugend, sondern viele Menschen haben längst realisiert, dass es einen grundlegenderen Wandel der Wirtschafts- und Konsumweise braucht.
Die Abkehr von einem konsumfixierten Wohlstandsmodell ist keine Bedrohung, sondern eine Chance – vielleicht die einzige, die uns noch bleibt.
Lesen Sie hier die Vernehmlassungsantwort von Public Eye und unsere Position zu kritischem Konsum.
«Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.» (Erich Fried)
David Hachfeld hat ein Faible für die Schattenseiten der Konsumwelt. Er arbeitet seit 4 Jahren bei Public Eye und kämpft mit der Clean Clothes Campaign für Arbeitsrechte und Gerechtigkeit in der globalisierten Textilindustrie.
Kontakt: david.hachfeld@publiceye.ch
Twitter: @DHachfeld
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