Wir sind alle Aktionär*innen von Glencore

Jedes Jahr im Mai findet im Casinotheater in Zug die Generalversammlung des grössten börsennotierten Konzerns der Schweiz statt – jene des fossilen Energieriesen Glencore. Obwohl die Aktien des Konzerns aus Baar in London kotiert sind und das Management traditionell von Angelsachsen geleitet wird, ist Glencore eng verbunden mit der zeitgenössischen Geschichte der Schweiz – mit unserer Geschichte. Aber auch, auf heimtückischere Weise, mit unseren Ersparnissen und Renten.

Die Aktien von Glencore sind für die Finanzwelt das, was Mikroplastik für die Umwelt ist.

Es war vor zwölf Jahren. Im Mai 2012 fand die erste Generalversammlung von Glencore statt. Das alte Handelsbüro, das einst im Wohnzimmer von Rohstoffhändler Marc Rich in Zug residierte, hatte im Vorjahr den grössten Börsengang in der Geschichte der Londoner Börse gefeiert. Es war die Geburtsstunde eines Megaunternehmens, an dem wir alle seither einen Anteil erwerben können. Als Gegenleistung für den Zugang zum globalen Kapitalmarkt musste der von Ivan Glasenberg geleitete multinationale Konzern einige Regeln der guten Unternehmensführung einhalten. Dazu gehörten die Offenlegung von Informationen über die Finanzergebnisse und das Geschäftsmodell sowie die Durchführung einer jährlichen Hauptversammlung in Zug, um sich den Aktionär*innen vorzustellen und die Jahresabschlüsse genehmigen zu lassen. 

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Wenige Tage vor der nächsten Generalversammlung von Glencore am 29. Mai bleibt diese Transparenzübung in der Branche einzigartig. Als ob diese Art von korporatistischem Ritual nicht Teil des genetischen Codes der grossen Rohstoffhäuser in der Schweiz wäre. Bei Glencore wird das Ritual trotz der jahrelangen Erfahrung allerdings immer noch mit einer rührenden Unbeholfenheit durchgeführt.

© KEYSTONE/Urs Flueeler
In Zug protestieren Demonstranten im Juli 2012 gegen Glencore, kurz nach der ersten Generalversammlung in der Geschichte des multinationalen Unternehmens. Einen Monat später schlugen die südafrikanischen Behörden einen Streik in Marikana blutig nieder (40 Tote, 76 Verletzte), wo Xstrata, eine Tochtergesellschaft von Glencore, eine Mine besitzt.

Nach 40 Minuten war die erste Generalversammlung Glencores Geschichte

Gehen wir zurück in den Mai 2012.

Der Schauplatz: das im neobarocken Stil erbaute Casinotheater in Zug, beim Eingang eine Horde von Demonstrant*innen, welche die Aktionär*inne mit Flugblättern begrüssen. Auf der Bühne: ein südafrikanischer CEO, der seine ersten Sporen im Kohlebergbau verdient hat. Neben ihm: ein Verwaltungsrat mit Figuren, deren Lebensläufe nicht gerade berauschend sind (nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko konnte Tony Hayward, der ehemalige CEO von BP, bei Glencore wieder aufblühen und den Verwaltungsrat sieben Jahre präsidieren). Und ihnen gegenüber eine bunte Schar von Aktionär*innen, die «ausschliesslich gekommen sind, um über die Rendite meiner Aktien zu sprechen» oder um die unglücklichen Umstände rund um den Erwerb zweier Minen in der Demokratischen Republik Kongo anzuprangern.

Um in diese historische erste Generalversammlung von Glencore einzutauchen, lade ich Sie ein, die ausgezeichnete Erzählung in drei Akten zu lesen, die Pierre-Alexandre Sallier, damals Journalist von «Le Temps», in Anlehnung an eine Inschrift im Casinotheater daraus gemacht hat: comedia, musica, poesia. Ob Sie nun des Französischen mächtig sind oder sich mit einer Deepl-Übersetzung behelfen: So oder so werden Sie feststellen, dass sich in zwölf Jahren nichts wirklich geändert hat. 

Damals hatten Ivan Glasenberg und seine Statthalter die Generalversammlung in rekordkurzen 40 Minuten abgewickelt, bevor sie das versammelte Aktionariat ans Buffet schickten. Sie erreichten eine sowjetisch anmutende Zustimmung von 99% für alle Traktanden, über welche die Aktionär*innen abstimmten: Annahme der Jahresrechnung, Bestätigung des Verwaltungsrats ... So viel zu dieser ersten zaghaften Übung in Aktionärsdemokratie. 

Die Globalisierung des Aktionariats

Man muss vielleicht noch erwähnen, dass Ivan Glasenberg und sein Topmanagement damals fast 38% des Kapitals von Glencore hielten und damit jede Abstimmung kontrollieren konnten. Doch indem der multinationale Konzern, der 2022 einen Gewinn von 17 Milliarden US-Dollar erzielte, immer grösser wurde, entglitt er seinen Schöpfern. 

Glencore ist mittlerweile mit rund 70 Milliarden Franken kapitalisiert, da sich der Aktienkurs während der lukrativen Covid-Jahre erholt hat. Von den 13,5 Milliarden Aktien des Konzerns sind über 80% sogenannte Free-Float-Aktien; diese werden an der Börse frei gehandelt. Das heisst, dass Sie theoretisch – sofern Sie über das nötige Kleingeld verfügen und genügend Verkaufswillige finden – ohne Einschränkungen vier Fünftel des Unternehmens erwerben könnten. 

Während Ivan Glasenberg auch im Ruhestand knapp 10% der Aktien behält, gehört der Konzern heute mit Anteilen zwischen 7 und 9% auch dem Investmentfonds von Katar sowie den Vermögensverwaltern BlackRock, Capital Group oder Vanguard Group. Und, möglicherweise ohne es zu wissen, Arbeitnehmenden und Sparenden der westlichen Welt. 

Auch wenn viele Institutionen (wie zahlreiche Pensionskassen oder der norwegische Staatsfonds) Glencore aufgrund seiner Kohleverliebtheit oder seiner zahlreichen Korruptionsfälle von ihren Investitionen ausgeschlossen haben, sorgen die Nebenwirkungen des passiven Managements dafür, dass auch Sie möglicherweise echte Brocken in Ihrem Spar- oder Rentenbeitragsportfolio haben. Börsennotierte Unternehmen sind das Mikroplastik der Finanzwelt.

Börsenindizes und die schweigende Mehrheit

Und das kommt so: Glencore ist ein grosses globales Unternehmen, das an der Börse notiert ist und zum Beispiel im MSCI World Index (wie Alphabet, Tesla oder McDonald's) mit einem Anteil von 0,1 % vertreten ist. Institutionelle Anleger, die in ausländische Aktien investieren, neigen dazu, diese Art von Index nachzubilden, wenn sie versuchen, Ihre Beiträge mit möglichst geringem Risiko gewinnbringend anzulegen. Dies wird als passives Portfoliomanagement bezeichnet.

Jedes Mal, wenn Sie in die zweite Säule einzahlen, könnte also ein Bruchteil dieses Geldes in eine Aktie des weltgrössten Kohleexporteurs investiert werden. Durch denselben Mechanismus können auch einige Fonds, die als «nachhaltig» gekennzeichnet sind, «Spuren» von Glencore enthalten (fragen Sie Ihren Banker!). Das ist alles andere als harmlos.

Um zu versuchen, diese «Spuren» zu quantifizieren, habe ich die Stiftung Ethos gebeten, mich bei dieser Berechnung zu unterstützen. Ende 2022 hatten die 1700 Schweizer Pensionskassen gemäss offiziellen Statistiken rund 207 Milliarden Franken in ausländische Aktien investiert. Wenn diese Investitionen über passiv verwaltete Fonds getätigt wurden, kann man davon ausgehen, dass sie Glencore-Aktien im Wert von rund 200 Millionen Franken halten. Ein Teil dieses Geldes könnte jedoch noch in Aktien aus Schwellenländern investiert worden sein. Auf Anraten von Ethos gehen wir von der vorsichtigeren Schätzung aus, also von Aktien im Wert von 150 Millionen Franken oder 0,23% des Kapitals des von Marc Rich gegründeten multinationalen Unternehmens. Das ist mehr als nur ein Restwert.

Allein über unsere Pensionskassen besitzen wir mindestens 25 Millionen Aktien von Glencore.

Anders gesagt: Allein über unsere Pensionskassen (oft zu ihrem eigenen Nachteil) besitzen wir – wir Arbeitnehmenden und Pensionierten in der Schweiz – mindestens 25 Millionen Aktien von Glencore. Und dies ohne je zum Geschäftsgang gefragt worden zu sein oder sich dieser Macht auch nur bewusst gewesen zu sein. Deshalb: Wir sind alle Aktionär*innen von Glencore. Am 29. Mai wird der Verwaltungsrat der Generalversammlung seinen Klimaschutzplan zur Abstimmung vorlegen. Ausserdem wird er etwas mehr über die Integration der Kohleminen des kanadischen Konzerns Teck sagen müssen, den er Ende 2023 für rund 7 Milliarden US-Dollar übernommen hat. Grund genug, sich ernsthaft mit den Vorgängen im Casinotheater Zug zu befassen.

«Als ich im Junior-Team spielte, sagte mein Trainer immer: 'Wenn Du das Spiel gewinnen willst, musst Du Deinen Kopf dahin stecken, wohin andere nicht einmal den Fuss setzen würden.' Vielleicht hatte er Recht.»

Adrià Budry Carbó ist Mitglied des Rechercheteams von Public Eye, spezialisiert auf den Rohstoffhandel und der Finanzkriminalität. Davor war er Journalist bei der Tageszeitung Le Temps sowie der Tamedia-Gruppe. In einem anderen Leben arbeitete er ebenfalls am Nuevo Diario in Nicaragua. Er ist der Autor von "La Suisse sur des charbons ardents: enquête sur une industrie toxique", Ed. Savoir Suisse/EPFL Press, mai 2024.

Kontakt: adria.budrycarbo@publiceye.ch
Twitter: @AdriaBudry

Dieser Text ist eine Übersetzung des französischen Originaltextes.

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