PR-Floskeln und neue Gesetze: Wohin steuert Shein?
7. Dezember 2022
Wo wird die Kleidung genäht, die für wenige Franken im Onlineshop von Shein verhökert wird und Tausende aus der Generation Tik Tok dazu verleitet, in sozialen Netzwerken Konsumorgien zu veranstalten? Anfang 2021 machten wir uns mit Recherchepartnern auf Spurensuche. Sie führte uns in die chinesische Metropole Guangzhou und ins belgische Lüttich, zu Näher*innen, die von 12-Stunden-Tagen bei nur einem freien Tag im Monat berichteten. Und zu Logistikarbeiter*innen die für Niedriglöhne enorme Quoten erfüllen mussten. Diese Missstände veröffentlichten wir im Public-Eye-Magazin und einem Podcast; online ist die Reportage mittlerweile in sechs Sprachen erschienen, zuletzt auf Japanisch.
Weltweite Aufmerksamkeit für die Schattenseiten
Viele Leit- und Fachmedien griffen die Recherche auf, darunter die BBC und Business of Fashion, RTS und der Tagesanzeiger, die Repubblica und La Vanguardia. Selbst ins schwedische Kinderfernsehen schaffte es die Reportage, und auf Tik Tok und YouTube, also auf den Hauptmedien der Zielgruppe von Shein, wurden die Ergebnisse millionenfach angeschaut. Die Süddeutsche Zeitung, Le Monde und Der Spiegel, schickten eigene Reporter nach Guangzhou in die von uns aufgespürten Produktionshotspots: Ihre Gespräche mit Arbeiter*innen bestätigten unsere Ergebnisse. Und dem britischen Channel 4 gelang es gar mit verdeckter Kamera zu filmen. Die Ausstrahlung im Oktober 2022 löst eine erneute Empörungswelle aus. Andere Medien untersuchten Aspekte, die wir noch nicht beleuchtet hatten: Die New York Times interviewte Influencer*innen, Wired entlockte früheren Geschäftspartnern pikante Details über den Shein-Chef und Greenpeace testete Shein-Kleidung auf Chemikalien und fand bei 15% der Proben Rückstände jenseits der europäischen Grenzwerte.
Kurzum: Shein kann die Schattenseiten seines Geschäftsmodells nicht mehr verstecken. Einige Influencer*innen wendeten sich ab und kürzlich haben angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen bei Shein sogar die Rolling Stones eine Kooperation mit dem chinesischen Konzern aufgekündigt.
Versprechungen statt Verbesserungen
Gegenüber Public Eye gibt sich Shein weiter sehr zugeknöpft. Bis heute gab es keine Antworten auf den Fragekatalog zu den Rechercheergebnissen. Medien gegenüber versprach das Unternehmen zwar eine gezielte Untersuchung der Vorwürfe. Ergebnisse und Konsequenzen wurden aber nie kommuniziert. Nur indirekt und vier Monate später räumte Shein in seinem ersten CSR-Bericht ein, dass es bei 83% der Zulieferbetriebe Verbesserungsbedarf gibt, insbesondere beim Brandschutz und Notausgängen sowie bei den Arbeitszeiten.
Ob sich die Situation in den Nähereien im letzten Jahr verändert hat, wissen nur die Betroffenen selbst. Denn nachvollziehbare Informationen gibt es keine und offene Gespräche mit Arbeiter*innen sind noch schwieriger geworden. Auch, weil der Verband der Bekleidungshersteller des Distrikts Nancun, in dem sich viele Shein-Fabriken befinden, am 5. Mai 2022 gewarnt hat, dass «Gruppen oder Ausländer mit unbekannten Hintergründen» unter Vortäuschung falscher Motive Interviews führen und filmen würden. Sie hätten «böswillige und unwahre Kommentare in ausländischen Medien» veröffentlicht, «die das soziale Image der Bekleidungsindustrie insgesamt ernsthaft beeinträchtigt haben.» Auffälligkeiten sollten den Behörden gemeldet und Interviews vorab mit diesen abgestimmt werden.
Dennoch wurde auch dieses Jahr wieder vor Ort recherchiert und die Ergebnisse zeigen, dass die von Public Eye aufgedeckten Missstände weiter existieren oder gar grösser geworden sind.
Channel 4 berichtet von Arbeiter*innen, die manchmal sogar 18 Stunden arbeiten, von 8 Uhr morgens bis 2 Uhr in der Nacht. Die Reaktion auf diese Veröffentlichung fiel zunächst ähnlich aus wie damals: Shein sei «äusserst besorgt über die vorgebrachten Behauptungen». Das Unternehmen habe Informationen von Channel 4 angefordert und wolle die Vorwürfe untersuchen. Zwei Monate später räumte Shein ein, dass die Arbeitszeiten in zwei untersuchten Werkstätten tatsächlich die gesetzlichen Obergrenzen verletzten würden, andere Vorwürfe wies das Unternehmen hingegen als übertrieben oder falsch zurück.
Die Erklärung offenbart aber zugleich ein völlig unzureichendes Problembewusstsein: Bei den Löhnen rechnet der Konzern jene Anteile nicht heraus, die aus der Überstundenvergütung stammen und den den Grossteil der ausgezahlten Saläre ausmachen. Auch das Vergütungssystem nach Stückzahlen, welches neben den Einkaufspraktiken eine Hauptursache für den immensen Arbeitsdruck ist, stellt Shein nicht in Frage. Und statt die Arbeiter*innen für die Verletzung ihrer Rechte zu entschädigen, bestraft Shein seine Zulieferer und streicht zwei Drittel ihres Auftragsvolumens. Für die Betroffenen ist das ein doppelt verheerendes Signal: zum einen, weil sich diese Kürzungsmassnahme direkt und massiv auf ihr Einkommen auswirkt, und zum anderen, weil sie nun wissen, dass sie über Missstände besser Schweigen sollten, wenn sie ihren Betrieb und damit auch ihren Arbeitsplatz nicht gefährden wollen.
Neue Logistikzentren, alte Probleme
Eine neue Recherche zu zehn chinesischen Logistikzenten von Shein, die nicht mehr nur in der Region Guangzhou, sondern auch in anderen Provinzen (Foshan und Zhaoqing) liegen, zeigt, dass der Konzern inzwischen seine Produktionsbasis in weitere Regionen ausgedehnt hat, um die hohe Nachfrage zu befriedigen. Laut Videos, die Arbeiter*innen überwiegend auf Douyin, dem chinesischen Tik Tok, gepostet haben, sind auch dort 10-14-Stunden-Tage die Regel und es wird nach Leistung bezahlt (die durch die Anzahl Strichcode-Scans ermittelt wird).
Während in den Nähereien und der Logistik ein Jahr nach unserer Reportage also alles beim Alten zu sein scheint, hat sich ein Bereich bei Shein aber deutlich bewegt: die Kommunikation. Das Unternehmen hat massiv in seine Nachhaltigkeits-PR investiert.
Greenwashing fürs Geschäftsmodell
Diese kommunikative Flucht nach vorn wirkt allerdings so, als habe jemand im Konzern ein 20 Jahre altes Handbuch über Nachhaltigkeits-PR gefunden mit Tipps und Tricks, wie man sich ein grünes Mäntelchen umwirft, ohne etwas am toxischen Geschäftsmodell zu ändern.
Den Anfang machte vier Wochen nach unserer Veröffentlichung die Meldung, Shein habe mit Adam Whinston einen globalen «Head of Sustainability» rekrutiert. Das Signal: Nachhaltigkeit ist jetzt Chefsache, wir kümmern uns. Und der frühere Manager bei Disney und JC Penney macht seinen Job professionell: Er gibt nur wenige Interviews und wiederholt dabei sein Mantra, dass Shein eigentlich viel nachhaltiger sei, denn man würde ja nur Mini-Stückzahlen produzieren lassen, wodurch es viel weniger unverkaufte Ware und Müll gäbe als bei der Konkurrenz. Diese Botschaft ist mit Bedacht gewählt, lenkt sie doch geschickt von dem Hauptproblem ab, dass das ganze Marketing von Shein auf Impulskäufe abzielt, von denen viele schnell wieder entsorgt werden. Ausgeblendet bleiben auch die grossen Berge von Shein-Kleidung, die trotz kleiner Stückzahlen übrigbleiben und z.B. in die Philippinen exportiert werden.
Charity statt Wandel
Kurz danach startete Shein eine Charity-Offensive: Über einen «Shein Cares Fund» sollen in den nächsten Jahren 10 Millionen Dollar an NGOs fliessen, die sich für benachteiligte Gruppen, Tierwohl, Recycling oder die Kreislaufwirtschaft einsetzen. Und weil das wohl noch nicht reichte, um das Image eines Wegwerfmode-Konzerns loszuwerden, folgte im Juni 2022 die Ankündigung, dass Shein in den nächsten 5 Jahren 50 Millionen Dollar spendet, um Kleidermüll einzusammeln. Als Partner hat Shein dafür die Or Foundation auserkoren, die in Ghana diverse Sozial- und Umweltprojekte rund um die textilen Müllberge im Land durchführt. Die Direktorin von Or appellierte natürlich gleich an andere Firmen wie Nike, Adidas und H&M, dem guten Beispiel von Shein zu folgen. Die Botschaft: Shein handelt und nimmt Geld in die Hand, während die Konkurrenz nur redet.
Keine Frage: Die von Shein unterstützten Initiativen verfolgen wichtige Ziele. Und die Beträge sind beträchtlich, auch wenn sie sich, gemessen am Umsatz, im Promillebereich bewegen. Es ist schon ein ebenso gewagter wie geschickter PR-Stunt, weiter Massen an Wegwerf-Mode aus Plastik auf den Markt zu werfen, damit Milliarden einzunehmen und sich dann mit ein paar Millionen das Image des wohltätigen Müll-Aufräumers zu kaufen.
Menschenrechtsprobleme? Haben nur die anderen
In seine Webseite hat Shein ebenfalls kräftig investiert. Dort springt einem unter Sustainability and Social Impact als erstes das bunte Logo der Sustainable Development Goals (SDGs) ins Auge, also der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nation. Unternehmen schmücken sich gerne damit, denn viel tun muss man erstmal nicht: Eine Unterstützung der Ziele und des UN Global Compact sowie ein Nachhaltigkeits-Fortschrittsbericht reichen. Jener von Shein im März 2022 veröffentlichte ist zwar inhaltlich total dünn, also ohne Angaben zu Produktionsstätten oder den Mengen verkaufter Kleidung. Auch zu den problematischen Einkaufspraktiken von Shein, zu Gewerkschaftsrechten oder zu existenzsichernden Löhnen findet sich darin nichts. Für das hübsche SDG-Logo hat es trotzdem gereicht.
Seit kurzem hat Shein sogar eine Menschenrechts-Policy. Auch hier sucht der Konzern die Probleme und Risiken vor allem bei anderen. Im Mittelpunk steht ein Verhaltenskodex, an den sich alle Geschäftspartner zu halten haben. Werden bei den sporadischen Kontrollen irgendwo Missstände entdeckt, müssen die Zulieferer sie beheben oder Shein kündigt die Zusammenarbeit auf. Dass die viel zu niedrigen Preise, die Shein diesen Fabriken zahlt zusammen mit den engen Lieferfristen und dem Druck, immer wieder neue Modelle zu produzieren, für viele Missstände bei den Geschäftspartnern mitverantwortlich sind: Kein Wort dazu in diesem Dokument. Wie schon die Reaktionen auf unsere Recherchen zeigte: Sobald Probleme auftauchen, wird auch die unternehmerische Verantwortung an die Zulieferbetriebe outgesourct.
Doch Shein hat 2022 noch mehr aus der Greenwashing-Trickkiste gezogen: Die neue Sonderkollektion EvoluSHEIN, teilweise aus recyceltem Polyester, soll dem Sortiment einen nachhaltigeren Anstrich verleihen. Und ein Resale-Programm regt Shein-Kund*innen dazu an, aussortierte Kleidung weiterzuverkaufen, statt sie zu entsorgen. Zudem hat das Unternehmen Emissionsreduktionsziele formuliert. Die angekündigten 25% bis 2030 sind jedoch ebenso dürftig wie die Angaben zur Strategie. Spezifische Probleme wie die Luftfracht-Logistik werden gar nicht erst thematisiert.
Eigentlich wären viele der genannten Projekte von Shein kleine Schritte in die richtige Richtung. Ohne Strategiewende weg von der Wegwerf-Mode und den manipulativen Marketing-Tricks, die zu Überkonsum verleiten, sind das nicht mal Tropfen auf den heissen Stein, sondern Feigenblätter für ein für Mensch und Umwelt toxisches Geschäftsmodell.
Gerüchte um Expansion und Börsengang
Seit wir letztes Jahr auch die Struktur des Konzerns unter die Lupe genommen haben, hat sich viel getan. Shein baut gewaltige neue Logistikzentren, u.a. in den USA, in Kanada und in Polen. Ein neuer Europa-Chef soll hier neue Partnerschaften aufbauen. Und das Unternehmen weitet seine Kapazitäten nicht nur in China auf neue Regionen aus: Aktuell rekrutiert Shein auch Personal zum Aufbau eines neuen Produktionszentrums in der Türkei. Will das Unternehmen die Lieferfristen für seine Kundschaft in Europa und in Nahost verkürzen oder seine Abhängigkeit von China reduzieren? Von Shein ist dazu nichts zu erfahren. Auch über die Geschäftszahlen findet sich auf der neuen Webseite nichts. Das hindert den Konzern freilich nicht daran zu betonen, wie sehr er sich zur Transparenz verpflichtet fühlt.
Macht Shein 2022 wirklich 20 Milliarden Dollar Umsatz und liegt sein Wert tatsächlich bei 100 Millarden Dollar? Oder ist das Unternehmen überbewertet? Darüber wird wohl so lange weiter spekuliert, bis die Politik oder ein Börsengang Shein zwingt, einen geprüften Geschäftsbericht zu veröffentlichen. Gerüchte über ein «Initial Public Offering» (IPO) gibt es schon seit Jahren, doch wollen respektive brauchen die Eigentümer diesen Zugang zum Kapitalmarkt überhaupt?
Weist Politik Shein in die Schranken?
Ausgerechnet Shein ruft Regierungen dazu auf, «sowohl die Transparenz in den erweiterten Lieferketten als auch die Menschenrechte in allen Ländern, in denen wir tätig sind» zu fördern. Da sind wir ausnahmsweise mal einverstanden: Die Politik muss Shein und ähnliche Unternehmen endlich zur Offenlegung ihrer Geschäftszahlen und -praktiken zwingen. Die kompletten Lieferketten, wo und unter welchen Arbeitsbedingungen produziert, verpackt und verkauft wird, welche Umwelt- und Menschenrechtsrisiken bestehen und wie ihnen entgegnet wird: All diese Informationen müssen der Öffentlichkeit endlich zugänglich gemacht werden.
Während die Schweizer Politik hier weiter schläft, ist in der EU dazu ein erstes Gesetzesvorhaben unterwegs: die kürzlich verabschiedete Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen soll Greenwashing erschweren und dürfte auch Shein zwingen, zumindest einige konkretere Angaben zu machen. Doch leider ist die Massnahme lückenhaft und kommt viel zu spät: Für Unternehmen, die wie Shein ihre Produkte aus Drittstatten in die EU verkaufen, greift sie erst ab 2029, und eine Pflicht zur Offenlegung der Lieferketten fehlt völlig. Mit ihrer Textilstrategie will die EU ferner Wegwerf-Mode zurückdrängen und dafür sorgen, dass ab 2030 alle Modeprodukte auf dem EU-Markt langlebig sind und sozial- und umweltverträglich hergestellt werden. Doch hier fehlen an vielen Stellen noch die konkreten Vorgaben, die Strategie gibt bislang nur die grobe Richtung vor. Auch ob und wie das angekündigte EU-Lieferkettengesetz auch ausländische Onlinehändler wie Shein zu mehr Verantwortung zwingen wird, wird derzeit noch verhandelt. Auch in den USA liegen neue Gesetzesvorstösse auf dem Tisch, die Shein und andere Modehändler zu Transparenz und mehr Verantwortung zwingen wollen, doch verabschiedet sind sie noch nicht.
Shein spürt offenbar, dass die Politik gerade wichtige Weichen für die Zukunft der Modeindustrie stellt. Der Konzern intensiviert deshalb seine Charmeoffensive und hat hinter den Kulissen schon Lobbykanzleien beauftragt, die Regulierungsvorhaben für die Bekleidungsindustrie und den Onlinehandel zu verfolgen und bei Bedarf wohl auch zu bekämpfen.
Jetzt kommt es darauf an, dass Politiker*innen in Bern, Brüssel oder andernorts sich nicht von weiteren Versprechen blenden lassen, sondern mit verbindlichen Regeln für alle eine wirklich sozial- und umweltverträgliche Modeindustrie durchsetzen.
P.S.: Unser geschätzter Kollege Timo Kollbrunner ist mittlerweile weitergezogen zur Republik. Wir sind dankbar für seine massgeblichen Beiträge zur Shein-Reportage und anderen Recherchen und wünschen ihm, dass er auch an seiner neuen Wirkungsstätte ein paar Steine ins Rollen bringt.