Reportage: Syngenta in Brasilien Aus heiterem Himmel
Carla Hoinkes, 15. September 2018
«Es war wie ein Nieselregen», sagt der heute 17 Jahre alte Wagner Mendes Vieira Filho. «Meine Kleider wurden ganz feucht.» Dann habe der Kopf zu schmerzen begonnen. Die Haut zu jucken. Sei der Atem weggeblieben. Anderen Kindern sei übel geworden, manche hätten sich übergeben, das Bewusstsein verloren. «So viele Kinder lagen am Boden, schrien vor Schmerzen», sagt Hugo Alves dos Santos. «Ein Junge kratzte sich die Brust blutig.» So erinnern sich der damalige Schüler und der damalige Schulleiter an das, was am 3. Mai 2013 vor ihrer Schule geschah.
Das spartanisch eingerichtete Gebäude der Schule São José do Pontal befindet sich in einer abgelegenen Siedlung in der Gemeinde Rio Verde des zentralbrasilianischen Bundesstaats Goiás. Es ist umgeben von gigantischen Mais und Sojafeldern, auf denen regelmässig Pestizide aus der Luft ausgebracht werden.
An diesem Tag aber kam das Flugzeug, eine Maschine des brasilianischen Luftfahrtunternehmens Aerotex, der Schule ungewöhnlich nahe. Während einer Pause sei es geflogen gekommen, so nah, dass man die Hitze des Motors gespürt habe, erinnert sich Hugo. Die Kinder hätten dem Piloten noch zugewinkt, einige seien ihm freudig nachgerannt. Dann spürten sie das Gift.
Die Bilanz dieses verheerenden Montags: 92 der 120 Anwesenden, die allermeisten Kinder im Alter von vier bis sechzehn Jahren, zeigten Symptome akuter Vergiftung. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurde den Opfern Sauerstoff verabreicht, einige mussten reanimiert werden.
Hugo, der an Asthma leidet, erlebte den Weg dorthin «wie eine Todesfahrt », sagt er. «Ich glaubte, ich würde sterben. Mein Mund trocknete aus, ich bekam keine Luft, der Druck im Kopf war kaum auszuhalten», erzählt er bei sich zu Hause. Doch am schlimmsten seien seine Erinnerungen an die Kinder: «Sie fielen in Ohnmacht, immer wieder. Sie schrien ‹Onkel Hugo, Onkel Hugo, lass uns nicht sterben›.» Noch heute, nach mehr als fünf Jahren, verfolgten ihn diese Szenen in der Nacht.
Here comes the Star
Das Pestizid, das am 3. Mai versprüht wurde, heisst Engeo Pleno. Hergestellt wird es vom Schweizer Unternehmen Syngenta. In Brasilien bewirbt der Agrarriese sein Produkt in Fernsehspots als hochmodernes, effizientes und sicheres Insektizid für «gesunde Äcker». Der «neue Stern» Syngentas sei erschienen, heisst es im Spot, während eine glückliche Bauernfamilie zu einer brasilianischen Version des Beatles-Klassikers «Here comes the Sun» den Blick über die Monokulturen schweifen lässt, an deren fernem Horizont die Sonne gen Himmel steigt.
Schauen wir uns diesen «Stern» am Pestizidhimmel einmal genauer an. Engeo Pleno enthält eine Kombination zweier Wirkstoffe: Thiamethoxam und Lambda-Cyhalothrin. Thiamethoxam gehört zu den Neonicotiden – denjenigen Stoffen, die weltweit in Verruf geraten sind, weil sie nachweislich die Bienengesundheit gefährden. Erst im April dieses Jahres hat die EU deshalb die Anwendung von Thiamethoxam und zwei weiterer Neonicotiden auf freien Feldern verboten. Gemäss EU wirkt Lambda-Cyhalothrin erwiesenermassen hormonaktiv. Es beeinträchtigt dadurch potenziell die Fruchtbarkeit, den Stoffwechsel und neurologische Funktionen. Laut Syngentas eigenen Angaben kann Lambda-Cyhalothrin akut Atemwege, Haut und Augen irritieren und bei Einnahme Lungenentzündungen, Schwindel und Erbrechen hervorrufen. Die EU geht deutlich weiter und warnt, das Einatmen des Stoffes könne tödlich sein.
Beide Wirkstoffe sind vom internationalen Pesticide Action Network (PAN) auf die schwarze Liste hochgefährlicher Pestizide gesetzt worden. Wie sich die beiden Substanzen in Kombination auf die menschliche Gesundheit auswirken, ist ungewiss. Umfassend auf ihre Toxizität untersucht werden jeweils lediglich die einzelnen Wirkstoffe, nicht aber das fertige Pestizid.
«Sorgfaltspflicht missachtet»
Aufgrund seiner Gefährlichkeit für Bienen hatte auch die brasilianische Umweltbehörde IBAMA die Anwendung von Thiamethoxam per Flugzeug 2012 verboten.
Engeo Pleno hätte am 3. Mai 2013 in Rio Verde also gar nicht aus der Luft versprüht werden dürfen.
Das der Industrie nahestehende Landwirtschaftsministerium hatte zwar kurz nach dem IBAMA-Entscheid die Ausbringung per Flugzeug für einige Kulturen temporär wieder erlaubt, jedoch nicht für den Maisanbau.
Direkt nach dem Vorfall waren der Pilot und weitere Mitarbeitende des Luftfahrtunternehmens Aerotex wegen Umweltverbrechen und Missachtung des gesetzlichen Sicherheitsabstands zu Siedlungen gebüsst worden. Später hatte das Bundesministerium von Goiás sowohl Aerotex als auch Syngentas brasilianische Geschäftsstelle auf «immateriellen Schaden an der Gemeinschaft» verklagt. Im März 2018 sind nun beide Unternehmen vor einem regionalen Bundesgericht verurteilt worden. Syngentas Vergehen bestand gemäss Richtspruch darin, dass die Firma trotz gesetzlicher Vorschrift nicht über das bestehende Verbot, das Pestizid im Maisanbau per Flugzeug auszubringen, informiert habe. Damit habe sie «ihre Sorgfaltspflicht missachtet» und trage dieselbe Verantwortung wie das Unternehmen Aerotex, welches das Pestizid unrechtmässig versprüht hatte. Beide Unternehmen hätten grundlegende Rechte von Kindern und Jugendlichen verletzt.
Doch das Strafmass ist für die Menschen in Rio Verde ein Hohn: Die beiden Firmen wurden gemeinsam zu einer Strafe von umgerechnet 45 000 Franken verurteilt. Das sind gerade einmal eineinhalb Prozent der von der Anklage geforderten 3 Millionen Franken. Ein lächerlicher Betrag angesichts der hohen Opferzahl. Zudem geht das Geld nicht einmal direkt an die Geschädigten, sondern fliesst in einen staatlichen Fonds. Von dort kann es erst auf Antrag den Opfern zukommen – sofern sie die erheblichen administrativen Hürden erfolgreich meistern. Auf eine Entschädigung warten die meisten Opfer von Rio Verde daher bis heute. Weitere Gerichtsverfahren, welche die Übernahme von Behandlungskosten durch die lokalen Behörden garantieren sollen, sind noch hängig. So sei eben das Rechtssystem hier, sagt Erly Maria da Silva, eine ehemalige Lehrerin an der Schule. Solche Verfahren könnten Jahre dauern. Grosse Hoffnung habe sie nicht mehr. Selbst wenn eines Tages ein Urteil fallen sollte, würde das nichts daran ändern, dass sie weiterhin «damit leben» müsste, sagt sie. Leben womit?
«Konnte nicht mehr richtig denken»
«So schlimm es im Moment auch war, ich rechnete nicht mit gesundheitlichen Folgeerscheinungen», erzählt Erly. Doch noch Wochen nach dem Vorfall hatte sie heftige Hustenanfälle, merkte, wie sie immer vergesslicher wurde. «Ich konnte nicht mehr richtig denken, war nicht einmal mehr in der Lage, eine Unterrichtseinheit zu planen.» Bald habe sie einen Teil ihrer beruflichen Verantwortung deswegen abgeben müssen, erzählt Erly auf der kleinen Veranda hinter ihrem Haus. Immer wieder legt sie lange Pausen ein, kämpft darum, die Fassung zu bewahren.
Bei Erly wurde eine chemisch bedingte Lungenentzündung diagnostiziert. Zudem benötigt sie noch heute täglich Medikamente gegen Bluthochdruck. Vor dem Zwischenfall sei sie immer gesund gewesen, sagt sie. Doch seither sei sie ein anderer Mensch.
Auch bei den Schulkindern hätten sich nach dem Vorfall Beschwerden wie chronischer Husten, extreme Müdigkeit, Kopfschmerzen, Vergesslichkeit und depressive Verstimmungen gehäuft.
Gerade jene Symptome, die auf eine Beeinträchtigung neurologischer Funktionen hinweisen können, müssten aufhorchen lassen. Denn beide Pestizidwirkstoffe von Engeo Pleno wirken bei Insekten als Nervengift. Insbesondere bei Lambda-Cyhalothrin mehren sich wissenschaftliche Hinweise, dass es auch bei Menschen neurotoxisch wirkt.
Atemnot und Kopfschmerzen
Auch der damalige Schüler Wagner, der Epileptiker ist, sagt, seit dem Vorfall verspüre er manchmal Atemnot. Bis heute. Und seine Kopfschmerzen seien viel häufiger geworden. Vor allem aber habe sich die Häufigkeit seiner epileptischen Anfälle erhöht. Eine Mutter, die ihren Namen nicht abgedruckt sehen möchte, berichtet, dass ihr damals achtjähriger und bis dahin kerngesunder Junge seit dem Vorfall gesundheitliche Probleme entwickelt habe. Heute leide er an Bronchitis, die nicht verschwinde, benötige Medikamente.
Hugo, Erlys ehemaliger Lehrerkollege, erzählt uns, dass während fast zwei Jahren nach dem Vorfall kaum ein Tag vergangen sei, an dem er nicht ins Krankenhaus ging, um kranke Kinder zu besuchen. «Kaum hatte sich eines erholt, wurde ein anderes krank.» Immer wieder sei die Schule ausgefallen. Er wisse von einem Dutzend gravierender Fälle. Von Opfern mit schweren Nieren und Leberproblemen etwa. Doch viele Familien sind mittlerweile weggezogen, einige habe er lange nicht gesehen, sagt Hugo. Die Spuren verlieren sich.
Das Gesetz des Schweigens
Die Ärzte würden eine mögliche Verbindung zwischen den Gesundheitsproblemen und dem Ereignis kategorisch ablehnen, sagen alle Betroffenen. «Wenn du heute zum Arzt gehst und den Vorfall auch nur erwähnst, schickt er dich gleich wieder nach Hause», sagt Erly. Anfangs hätten sich vor allem die Medien für die Vergiftungen interessiert, doch bereits nach wenigen Monaten habe niemand mehr davon gesprochen, sagt Hugo. Wenn er mit den Kindern zum Arzt gegangen sei, habe man ihn nicht ernst genommen.
«Da kommt wieder der Lehrer mit seinen Vergifteten», hätten sie gesagt. Manchmal sei ihnen gar die Behandlung verweigert worden.
Er solle nicht so ein Drama machen. So sei zu den gesundheitlichen Folgen psychischer Stress gekommen, «aufgrund all jener, die uns verurteilten, stigmatisierten», ergänzt Erly. Natürlich hätten sie keine Beweise für einen Zusammenhang. «Wie soll man etwas beweisen, das nie wirklich untersucht worden ist», fragt sie. Bemühungen habe es schon gegeben, von Forschungsinstituten, NGOs, Wissenschaftlerinnen, die teils von weit her angereist seien. Doch die lokalen Behörden und Ärzte hätten nichts von einer systematischen Untersuchung durch Fachärztinnen wissen wollen. Im Urteilsschreiben gegen Syngenta und Aerotex steht denn auch, es gäbe keine Beweise für «ernsthafte Folgeerkrankungen». So habe man den Vorfall nach und nach ausgelöscht, sagt Hugo. «Das Gesetz des Schweigens hat gesiegt.»
Sechs Kilo Pestizid pro Kopf
«Bereits einen Tag nach dem Vorfall bekam ich einen Anruf vom damaligen Bürgermeister Rio Verdes. Ich dürfe nicht zu den Medien sprechen, insistierte er.» Der damalige Bürgermeister ist einer der grössten Produzenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse in der Gemeinde. Und «gross» bedeutet in Rio Verde wirklich gross. Auf fast 390 000 Hektaren produziert die Gemeinde jedes Jahr mehrere Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Soja und Getreide. Diese Fläche entspricht fast 40 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Schweiz. Die Landwirtschaft ist Rio Verdes wichtigster Wirtschaftszweig. Ihr Erfolg sei das «Ergebnis modernster Spitzentechnologie», schreibt die Gemeinde auf ihrer Webseite. Rio Verde ist nicht nur die grösste Getreide- und Ölsaatenproduzentin des Bundesstaats Goiás, sondern auch an sechster Stelle der nationalen Sojaproduktion und die siebtwichtigste Maisproduzentin Brasiliens.
Das ist nicht zu übersehen. Das Panorama ändert sich während unserer rund zweistündigen Autofahrt vom Stadtzentrum Rio Verdes zur Schule kaum: Monokulturen, soweit das Auge reicht. Geradezu exemplarisch versinnbildlicht Rio Verde damit das agroindustrielle Entwicklungsmodell der zentralen und westlichen Bundesstaaten Brasiliens. Dank staatlicher Fördermittel hat sich die landwirtschaftliche Fläche der Region in den letzten Jahrzehnten rasant ausgedehnt. Als Folge davon ist der Bundesstaat mittlerweile auch in Bezug auf den Einsatz von Agrochemie nationale Spitze:
Mehr als 42 Tausend Tonnen Pestizide werden jährlich ausgebracht – das sind 6,3 Kilo pro Bewohnerin und Bewohner.
Damit hat Goiás im Land, in dem so viele Pestizide verwendet werden wie nirgends sonst, den dritthöchsten Verbrauch im Verhältnis zur Bevölkerung.
Kaum ein schlechtes Wort
Obwohl Hugo um den Einfluss des Sektors wusste und obwohl er von oberster Stelle gewarnt worden war, schwieg er damals nicht. Lange habe er dafür gekämpft, dass die Kinder und ihre Familien zumindest medizinische Versorgung erhielten, sagt er. Dass die Sache wenigstens anständig untersucht würde. Doch immer wieder habe man versucht, ihn durch Einschüchterungen und sogar Morddrohungen zum Schweigen zu bringen. Seine Differenzen mit dem Bürgermeister führten zur Kündigung seiner Stelle als Schulleiter. Nicht immer sei klar gewesen, wer hinter den Drohungen steckte, wer hinter den Kulissen Druck ausgeübt hatte, sagt Hugo. So viele seien hier in Rio Verde in irgendeiner Weise vom Agrobusiness abhängig oder profitierten davon. Damit erklärt man sich hier auch die Zurückweisung in Krankenhäusern und Praxen, das offensichtliche Desinteresse der Behörden an dem Vorfall.
Ähnlich äussert sich Murilo Souza vom Agroökologie- Lehrstuhl der Universität Goiás: «Vielleicht ist die Krankenschwester, die die Kinder behandelt, die Tochter eines Sojaproduzenten. Vielleicht arbeitet ihr Mann in einer Kooperative, die auch Pestizide vertreibt. Vielleicht besitzt der Arzt selbst ein Maisfeld.» Das treffe auch auf viele Eltern zu, sagt der Landwirtschaftsexperte, «ganz zu schweigen von Politik und Behörden». Murilo Souza ist einer der Regisseure des Dokumentarfilms «Brincando na Chuva de Veneno» («Im Giftregen spielen»), der vor fünf Jahren die Vergiftungen zum Thema machte. Viele hätten es damals abgelehnt, vor der Kamera zu sprechen. Manche aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. «Die Leute fühlen sich nicht gut, wenn sie schlecht über das Agrobusiness sprechen. Entweder, weil jemand sie unter Druck setzt, oder ganz einfach, weil es sich nicht gehört.»
Dem Gift chronisch ausgesetzt
Pestizide, sagt die frühere Lehrerin Erly, gehörten hier zum Alltag einfach dazu. «Wir sind diesen Produkten ständig ausgesetzt.» In der Hochsaison liege stets dieser beissende Gestank in der Luft, sagt auch Wagner. Sei er besonders stark, beginne sein Kopf zu schmerzen, werde ihm schwindlig und übel, erzählt er im Garten vor dem Haus seiner Familie. Seit dem Zwischenfall reagiere er noch viel empfindlicher darauf. In einer Ecke liegen leere Pestizidbehälter. Keine 30 Meter weiter ragen hohe Maisähren in die Höhe. Als wir auf unserer Fahrt durch die scheinbar endlosen Felder auf einen Traktor treffen, der Pestizide ausbringt, erhalten wir eine unangenehme Geruchsprobe dessen, was Wagner uns schildert.
Erst kürzlich hat die Organisation Human Rights Watch in sieben verschiedenen Orten aller fünf grossen geografischen Regionen Brasiliens eine Erhebung zur Pestizidexposition durchgeführt, unter anderem in Rio Verde. In allen sieben Ortschaften berichteten die Befragten von Übelkeit, Erbrechen, Schwindel oder Kopfschmerzen, nachdem Produkte in der Nähe ihrer Häuser, Schulen oder Arbeitsplätze ausgebracht worden waren. Alles typische Symptome akuter Pestizidvergiftung. Gesprüht wird in allen Ortschaften wiederholt und mehrmals pro Jahr.
Diesen Pestiziden chronisch ausgesetzt zu sein, kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.
Kürzlich warnte ein Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), dass bei Kindern dadurch Asthma, Krebs oder neurologische Störungen ausgelöst werden können. Zudem könne eine chronische Exposition zu lebenslangen Gesundheitsproblemen führen und erhöhe das Risiko von Früh- und Fehlgeburten, reduzierter Spermafunktion, Kindersterblichkeit und einer ganzen Reihe weiterer Krankheiten bei Erwachsenen.
Brasiliens Gesundheitsministerium hat 2017 fast 14 000 Pestizidvergiftungen registriert – 270 Fälle pro Woche, ein neuer Rekord. Renommierte Forschungsinstitute und Experten halten die Zahl allerdings für eine massive Unterschätzung, da unzählige Fälle nicht gemeldet oder von Ärzten nicht als solche identifiziert werden.
«Keinerlei Aktivität»
Als im März 2018 das Urteil gegen Syngenta Brasilien fiel, bedauerte der Konzern in der Presse den Vorfall, wies jedoch jede Verantwortung von sich. Syngenta beteuerte, dass man in Bezug auf den Vorfall «in keinerlei Aktivität involviert» gewesen sei. «Neben dem Einhalten aller Vorschriften und der ausschliesslichen Verwendung sicherer Spitzentechnologie investieren wir in Schulungen für die korrekte Anwendung der Produkte auf dem Feld, um die Sicherheit für Mensch und Umwelt jederzeit zu gewährleisten», liess die Firma verlauten.
Von Schulungsaktivitäten durch Syngenta oder andere Agrarfirmen weiss jedoch niemand zu berichten. Der Konzern scheint seine Energie eher auf die Vermarktung seiner Produkte zu verwenden. Erst im März 2018 hat Syngenta in Rio Verde eine Werbeveranstaltung für rund tausend Besuchende veranstaltet. In seiner Anklageschrift hat das Bundesministerium explizit darauf hingewiesen, dass Syngentas aufwendige Promotionsaktivitäten für Pestizide «in keinem Verhältnis zu den sehr spärlichen Sicherheitsinstruktionen» stünden.
«So ist das eben»
Im Grossen und Ganzen habe sich seit 2013 kaum etwas verändert, hören wir von verschiedenen Seiten. Und das Schlimmste sei, dass es jederzeit wieder passieren könne. Zwar würden die Flugzeuge nun den gesetzlichen Sicherheitsabstand von 500 Metern einhalten und einen grossen Bogen um São José do Pontal fliegen. Doch Schulen wie diese gebe es in Goiás Hunderte, sagt Hugo, der heute in sechs Schulen der Umgebung Sport unterrichtet. Ob der Sicherheitsabstand dort respektiert wird, ist fraglich.
Human Rights Watch hat vier Fälle dokumentiert, in denen dies nicht der Fall war. Wegen möglicher schwerer Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit erlauben die EU und die Schweiz im Gegensatz zu Brasilien das Ausbringen von Pestiziden aus der Luft seit 2009 nur noch unter strengen Auflagen und per Sonderbewilligung.
Die Mutter des an Bronchitis leidenden Jungen sagt: «Wenn wenigstens für die Gesundheitskosten gesorgt wäre, wäre uns schon sehr geholfen. Manchmal ist der Junge krank, und wir können nicht zum Arzt, weil wir es uns nicht leisten können.» Doch bis heute hätten sie keine Unterstützung erhalten. Weder von Syngenta noch von irgendjemandem sonst.
Die Verantwortung für den Vorfall trügen Verschiedene, sagt Erly. Schlimm findet sie, dass «sie sich danach nicht für uns interessiert haben». Mit «sie» meint sie die Behörden, Unternehmen wie Aerotex, aber «insbesondere auch Syngenta», die Firma, die das Gift schliesslich produziere. Ihres Wissens sei nie jemand von Syngenta in Rio Verde erschienen. «Sie kümmern sich nicht um die Menschen. Sie sind auf den Gewinn aus. Sonst hätten sie sich doch auf die eine oder andere Weise gezeigt, sich positioniert », sagt sie.
«Wie können sie überhaupt ein Pestizid hier versprühen, das in Europa verboten ist?» fragt sie. «Vertragen wir hier in Brasilien das Gift besser als ihr in Europa?»
Alles, was sie sich heute wünsche, sei Anerkennung, sagt Erly. Anerkennung dessen, was ihnen wiederfahren sei und der Folgen davon. Sie wünschte sich, dass sich Syngenta wenigstens bei ihnen entschuldigte. «Aber die Grossen», sagt sie, «kommen nicht zu den Kleinen. So ist das eben.»
Syngenta Brasilien hat bereits Einspruch erhoben gegen das Urteil vom März 2018.
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