Wissensaustausch: Die Schweiz zeigt ihr wahres Gesicht
Dass Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen lebenswichtige Medikamente und andere Gesundheitstechnologien lokal produzieren können sollten, um ihren Zugang dazu zu verbessern, ist längst anerkannt und wird in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit über 40 Jahren diskutiert. Ein Dutzend Resolutionen später und punktueller Fortschritte zum Trotz ist das Problem immer noch akut. Neben der fehlenden finanziellen Unterstützung und der Hürde der Exklusivrechte wird die lokale Produktion vor allem durch fehlenden politischen Willen in den Sitzländern der Pharmariesen behindert. Dabei hätten Länder wie die Schweiz die benötigten Hebel durchaus in der Hand, ihre Pharmaindustrie zum Teilen des Know-hows und der Herstellungsrezepte zu ermutigen, sei es im Rahmen der Subventionsvergabe oder über das Patentsystem.
Unter der Führung von Äthiopien und unterstützt von China schlugen zehn afrikanische Länder (Äthiopien, Eswatini, Ghana, Kenia, Namibia, Ruanda, Simbabwe, Südafrika, Sudan, Togo) Ende 2020 eine neue Resolution vor, um endlich den Technologietransfer anzukurbeln und eine dezentralere Produktion zu ermöglichen zumindest für sogenannt unentbehrliche Arzneimittel. Diese werden von den meisten armen Ländern immer noch mehrheitlich importiert, obwohl die Kapazität zur Eigenproduktion vorhanden wäre. Das brennende Thema der lokalen Produktion von Covid-19-Impfstoffen und -Behandlungen kam in den Debatten unweigerlich zur Sprache. Unter dem Titel «Strengthening local production of medicines and other health technologies to improve access» wird die Resolution derzeit von den WHO-Mitgliedsstaaten diskutiert und soll im Rahmen der 74. Weltgesundheitsversammlung vom 24. Mai bis 1. Juni 2021 verabschiedet werden.
Die Herausforderung der lokalen Produktion in Pandemiezeiten
Die Covid-19-Pandemie hat ein grelles Licht auf die Problematik der lokalen Herstellung von lebenswichtigen Impfstoffen und Medikamenten geworfen. Im Frühling 2020 machten Chinas Restriktionen die Anfälligkeit der globalisierten Versorgungsketten und deren Abhängigkeit von Asien deutlicher denn je. Es kam wiederholt zu Engpässen bei Medikamenten und anderen, eigentlich gängigen medizinischen Gütern auch in Schweizer Spitälern. Seit der Zulassung von Impfstoffen werden auch in der Schweiz nicht nur deren verzögerte Lieferung und ungleiche Verteilung heftig diskutiert, sondern auch die Frage nach einer lokalen Produktion vermehrt gestellt. Davon zeugen die politischen Turbulenzen um die «Berset-Lonza-Affäre» und die in diesem Zusammenhang fehlende Bereitschaft der Schweiz, die Impfstoffproduktion in Visp finanziell zu unterstützen.
Sich selbst gegen die Produktion im Inland zu stellen, ist das Eine, aber andere davon abzuhalten, ist etwas ganz Anderes.
Doch genau darum bemüht sich die Schweiz zurzeit, wenn sie sich bei der Welthandelsorganisation gegen die vorübergehende Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte (WTO, TRIPS-Ausnahmeregelung) stemmt und gleichzeitig die WHO-Resolution zu schwächen versucht.
Dabei handelt es sich bei dieser WHO-Resolution keineswegs um eine «TRIPS- Ausnahmeregelung bis»: Sie betrifft nicht nur die Mittel zur Bekämpfung von Covid-19, ist längerfristig angelegt und konzentriert sich insbesondere auf den Technologietransfer. Doch wenn es um den Austausch von Wissen und den Zugang zu Medikamenten geht, ist das Thema geistiges Eigentum stets in greifbarer Nähe – ein Thema, bei dem die Schweizer WHO-Delegation schnell ihre gewohnte Zurückhaltung verliert.
Das wahre Gesicht der Schweiz
Public Eye hat Versionen des WHO-Resolutionstexts vom 5. und 26. März 2021 erhalten, in denen die Positionen der Länder in den jeweiligen Verhandlungsrunden deutlich erkennbar sind. Aus der Analyse dieser Dokumente geht hervor, dass die Schweiz jegliche Verweise auf den «Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP)» streichen will. Diese Plattform für den Wissensaustausch und die Bündelung von Rechten wurde von der WHO im Mai 2020 auf Antrag Costa Ricas lanciert und von 40 Mitgliedstaaten (davon 5 europäische) sowie zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen (darunter Public Eye) unterstützt.
Die Dokumente, die Public Eye erhalten hat, zeigen, wie sich die Positionen der Länder in Bezug auf den Verweis auf den C-TAP entwickelt haben: Während sich in der Version vom 5. März die USA ebenfalls noch dagegen aussprachen, ist die Schweiz das einzige Land, das auch in der Version vom 26. März noch Vorbehalte äusserte.
Dieser für die Schweiz in WHO-Verhandlungen zu so heiklen Themen wie dem Zugang zu Medikamenten ziemlich unübliche Alleingang macht deutlich, wie sehr sie sich in den Dienst der Pharmariesen stellt. Diese diskreditierten den C-TAP bereits vor seiner offiziellen Lancierung. Die Schweiz hat den Pool im Übrigen nie wirklich unterstützt, was die letzte Parlamentssession einmal mehr bestätigte (Frage 21.7316 Meyer und dringliche Interpellation 21.3052 Molina).
Das inkohärenteste Argument: «Die Schweiz setzt auf kollaborative und freiwillige Ansätze». Und die C-TAP stellt genau so einen freiwilligen Ansatz dar.
Des Weiteren untergräbt der C-TAP auch nicht das Patentsystem, wie sogar der ehemalige Verantwortliche für geistiges Eigentum bei Novartis, Paul Fehlner, im Juni 2020 in einem Beitrag einräumte. Im Gegenteil! Dieser Mechanismus ist die beste Lösung, um mithilfe der gemeinsamen Nutzung von Wissen eine dezentrale und flächendeckende Produktion zu ermöglichen. Doch mangels politischer Unterstützung durch «Big Pharma» und ihre Sitzländer wie die Schweiz bleibt der C-TAP bis auf Weiteres ungenutzt.
Die Macht der Pharmaindustrie wahren…
Jenseits der rein ideologischen Attitüden geht es bei dieser WHO-Resolution - genauso wie bei der Diskussion zur TRIPS-Ausnahmeregelung in der WTO - um die Frage der Entscheidungsmacht. Die Pharmakonzerne wollen die totale Kontrolle über die Produktion behalten und darüber bestimmen können, wer wann wie viele Impfstoffdosen oder Medikamente erhält.
Die Schweiz und andere reiche Länder stellen - treue Diener*innen die sie sind - den Mechanismus der freiwilligen Handelslizenzen in den Vordergrund. Diese wurden wohlbemerkt von den Pharmariesen selbst beschlossen und ausgehandelt. Anstatt einen Mechanismus zu unterstützen, der den Wissensaustausch fördert und damit das Angebot steigern könnte – und das obwohl die Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 massiv subventioniert wurden. Auch die neue Generaldirektorin der WTO verfolgt diesen Ansatz, wenn sie den «third way» propagiert, was zwar nett klingt, eigentlich aber nichts anderes bedeutet, als dass man der Pharmaindustrie, ganz business as usual, das Zepter überlässt, ohne irgendeine Gegenleistung zu verlangen.
…trotz ungleicher Verteilung
Dies trotz der skandalös ungleichen Verteilung aufgrund einer künstlich rationierten Produktion, die wiederum Ergebnis von Monopolen und vorrangig mit reichen Ländern geschlossenen Reservationsverträgen ist. Laut dem Generaldirektor der WHO sind bis heute 87% der 700 Millionen Impfstoffdosen in wohlhabenden Ländern verabreicht worden, während einkommensschwache Länder gerade einmal 0,2% erhalten haben. Ebenfalls nach Aussage von Dr. Tedros ist in reichen Ländern eine von vier Personen geimpft worden, in armen Ländern dagegen bloss eine von über 500 Personen. Bloomberg zufolge wurde bisher erst in drei der 54 Länder Afrikas mehr als 1% der Bevölkerung geimpft, 20 Länder haben noch keine einzige Dosis erhalten.
Diese Fakten lassen die Schweiz offensichtlich kalt und bewegen sie keineswegs dazu, auf internationaler Ebene solidarischer zu handeln, wie es die Petition von Public Eye und Amnesty fordert.
Ja zur lokalen Produktion, aber ohne Zwangslizenzen
Doch das ist noch nicht alles. Die Schweiz versucht ausserdem, in dieser WHO-Resolution die Nutzung der TRIPS-Flexibilitäten einzuschränken. Diese stellen souveränen Staaten legale Instrumente wie beispielsweise Zwangslizenzen zur Verfügung, damit sie zugunsten der öffentlichen Gesundheit in einen monopolisierten Markt eingreifen können.
Es ist paradox, dass Länder wie die Schweiz sich auf die Existenz dieser Flexibilitäten berufen, um bei der WTO ihren Widerstand gegen eine TRIPS-Ausnahmeregelung zu rechtfertigen. Denn dieselben Länder versuchen meistens den Anwendungsbereich der Flexibilitäten einzuschränken – beispielsweise eben im Rahmen dieser WHO-Resolution zur lokalen Produktion oder der Resolution vom Mai 2020 zur Reaktion auf Covid-19.
Angesichts der Schwierigkeiten, von Zwangslizenzen Gebrauch zu machen - wie ein aktuelles Beispiel für einen Covid-19-Impfstoff aus Kanada einmal mehr illustriert - sollte deren Nutzung vielmehr erleichtert statt eingeschränkt werden. Auch hier senden die Schweiz und ihre Verbündeten ein falsches politische Signal.
Schliesslich stellt sich die Schweiz auch partout dagegen, dass in dieser WHO-Resolution der Bericht des High-Level Panel on Access to Medicines des UN-Generalsekretärs aus dem Jahr 2016 erwähnt wird. Der Bericht beinhaltet eine ganze Reihe seriöser und fundierter Empfehlungen, mit denen der Graben zwischen Innovation und dem universellen Zugang zu lebenswichtigen, aber unerschwinglichen patentierten Medikamenten überwunden werden soll. Zusammen mit Ländern wie den USA hat die Schweiz diesen Bericht unmittelbar nach seiner Veröffentlichung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diskreditiert, um ihre Pharmaindustrie einmal mehr zu schützen – und dies, obwohl Ex-Bundespräsidentin Ruth Dreifuss das Panel mitleitete.
Recht auf Gesundheit für alle
Um die Pandemie zu bewältigen und endlich das Problem des ungleichen Zugangs zu lebenswichtigen Impfstoffen und Medikamenten anzugehen, muss die Schweiz ihren Kurs wechseln. Sie muss aufhören, sich jeglichen Lösungsversuchen wie der TRIPS-Ausnahmereglung oder dieser WHO-Resolution zur inländischen Produktion zu widersetzen. Die Pharmaindustrie spielt eine wichtige Rolle, aber sie darf nicht darüber bestimmen, wer Zugang hat und wer nicht.
Die Staaten müssen das Kommando wieder übernehmen, und die besser gestellten Länder müssen sich zur Öffnung bereit erklären, sodass auch weniger gut positionierte Länder die Herausforderung des universellen Rechts auf Gesundheit bewältigen können. Das Teilen von Wissen und die dezentrale Produktion sind vielversprechendere und angemessenere Lösungsansätze als die Monopolisierung und Privatisierung durch einige Wenige, die das aktuelle, ausweglose System ausnutzen.
Die Schweiz verfügt über die nötigen Mittel, um als gutes Beispiel voranzugehen. Sie muss endlich die Menschenrechte über die Interessen ihrer Pharmaindustrie stellen. Mit jährlichen Nettogewinnen, die regelmässig über 10 Milliarden Franken (über 20% des Umsatzes) liegen, können die Pharmariesen durchaus gewisse Zugeständnisse machen.