Wenn Rohstoffhändler erwischt werden

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Vale und der Dammbruch von Brumadinho

Betroffene Unternehmen / Personen: Vale S.A. (Brasilien), TÜV Süd (Deutschland)

Vorwurf: Tötung mit Eventualvorsatz, Verbrechen «gegen Gesellschaft und Umwelt» 

Schweizer Anwält*innen: keine 

Schauplätze des Geschehens: Brasilien, Deutschland, Schweiz

Schauplätze der Verfahren: Brasilien, Deutschland 

Verfahrensstand: 

  • Brasilien: Vale:
    • Vereinbarung über eine Entschädigungszahlung von 37,6 Milliarden Real (6,3 Milliarden Franken)
    • TÜV Süd: pendent
  • Deutschland: pendent

Wiedergutmachung: keine, jedoch diverse Sammelklagen (class actions) pendent

Der Fall

Die Szene mutet apokalyptisch an. Als die Deiche des Brumadinho-Damms an diesem 25. Januar 2019 brechen, reisst die Flut aus Schlamm und Bergbauabfällen auf ihrem Weg Bäume, Erdwälle und Infrastrukturen des brasilianischen Konzerns Vale mit sich. Schlimmer noch: Es ist gerade mal halb eins in dieser Region des Bundesstaates Minas Gerais und die meisten Bergarbeiter essen in der Kantine zu Mittag, als die 13 Millionen Kubikmeter grosse Schlammlawine mit einer Geschwindigkeit von 70 bis 80 km/h auf sie zurast. Die endgültige Bilanz beläuft sich auf 272 Todesopfer (unter Berücksichtigung der Tatsache, dass zwei Frauen schwanger waren), von denen die meisten bei Vale angestellt waren. Auch ein Teil der Gemeinde Vila Ferteco wird in Mitleidenschaft gezogen. Drei Leichname werden nie gefunden.

Für Brasilien ist dies eine Katastrophe. Für das Bergbauunternehmen Vale, das den Damm zur Lagerung von Rückständen aus dem Eisenerzabbau betreibt, ist es der zweite Dammbruch dieser Art in der Region innerhalb von etwas mehr als drei Jahren. Die offiziellen Statistiken, die kurz vor der Tragödie aktualisiert worden waren, wiesen rund 200 Staudämme wie den Brumadinho-Staudamm als gefährdet aus. Das Unternehmen Vale, das 2006 seine Handelsniederlassung im Dorf Saint-Prex im Kanton Waadt angesiedelt hat, betreibt allein ein Viertel davon. Die Empörung über das Unternehmen, das stets seine Verbundenheit mit der brasilianischen Kultur betont, wächst ins Unermessliche.

Schnell richteten sich die Blicke auf die Akteure, die mit der Inspektion und Beurteilung des Zustands dieser Art von Infrastruktur beauftragt waren. Im Fall von Brumadinho war dies die technische Prüfgesellschaft TÜV Süd. Nachdem ein Konkurrenzunternehmen sich geweigert hatte, die Stabilität des Staudamms zu bescheinigen, wandte sich Vale an den deutschen Konzern, damit TÜV Süd das Zertifikat erteilte». Bereits neun Monate vor der Katastrophe hatte ein Experte des TÜV Süd in internen E-Mails vor der unmittelbaren Bedrohung durch den Brumadinho-Staudamm gewarnt. Die Angst, den Kunden zu verlieren, hatte die Inspektor*innen jedoch dazu bewogen, Vale ihr Zertifikat zu erteilen. Die brasilianische Staatsanwaltschaft verdächtigt Vale-Manager*innen, die Prüfer*innen dazu überredet zu haben, ihre ursprüngliche Beurteilung zu korrigieren. Die Anschuldigungen beziehen sich auch auf ein grundlegendes Problem: die Abhängigkeit des Prüfers von seinem Kunden, der die Untersuchung bezahlt.

Im Mai 2019 untersagt ein Gericht schliesslich dem TÜV Süd, jegliche Zertifizierungen auf brasilianischem Gebiet vorzunehmen. Fünf Jahre nach dem Dammbruch fordern 1’400 Kläger*innen, darunter Überlebende und Familien von Opfern, vor einem deutschen Gericht noch immer eine halbe Milliarde Euro.

Der TÜV Süd, dessen brasilianische Tochtergesellschaft den Damm zertifiziert hatte, weist jede rechtliche Verantwortung für den Dammbruch von sich. Er verweist auf den Bergbaukonzern Vale. Anfang 2021 erklärte sich der Mischkonzern, der nun auf seiner Website mit dem Slogan «Wir werden Brumadinho nie vergessen» wirbt, im Rahmen einer Vereinbarung mit dem Bundesstaat Minas Gerais bereit, 37,6 Milliarden Real (6,3 Milliarden  Franken) als Entschädigung für Umweltschäden zu zahlen. Dies ist zum damaligen Zeitpunkt die bedeutendste Vereinbarung dieser Art in Lateinamerika. Darüber hinaus wurden 15’400 Personen mit einem Gesamtbetrag von 1,2 Milliarden Real entschädigt. Vale versichert, weitere 2,2 Milliarden Real als Wiedergutmachung gezahlt zu haben. In Brasilien und Deutschland sind weiterhin Verfahren gegen die Firma TÜV Süd pendent.

Schlüsseldokument

Chronologie

Datum

Ereignis

Quelle

5. November 2015Drei Jahre vor dem Brumadinho-Unglück bricht der Mariana-Damm im Bundesstaat Minas Gerais, wodurch Millionen Tonnen Schlamm aus einer von Vale und BHP betriebenen Eisenerzmine ins Land fliessen. 

Das Unglück gilt als die schlimmste Umweltkatastrophe in der Geschichte Brasiliens, mit Auswirkungen auf das lokale Ökosystem, die bis zu 30 Jahre andauern werden. Die endgültige Zahl der Todesopfer beläuft sich auf 19. CEO Fabio Schvartsman setzt Vale daraufhin das Ziel, nie wieder eine solche Tragödie zu erleben. 
France 24
10. April 2018Fabio Schvartsman erklärt öffentlich: Die Staudämme von Vale seien «einwandfrei», da «Nachhaltigkeit das Kerngeschäft des Unternehmens» sei.Globo
25. Januar 2019Kurz nach Mittag bricht der Brumadinho-Damm. Die meisten Opfer arbeiten im Eisenerzbergwerk Corrego do Feijao von Vale. Sie befinden sich in der Betriebskantine beim Mittagessen, als sie von der Schlammflut mitgerissen werden.

Die Behörden warten mehrere Tage ab, bevor sie die Bilder der Videoüberwachungskameras veröffentlichen, um «keine Massenpanik in der Bevölkerung auszulösen».
TheHuffPost (video)
30. Januar 2019Mehrere Dutzend Personen protestieren vor dem Firmensitz von Vale International S.A. in Saint-Prex im Kanton Waadt. Die Demonstranten entfalten ein schlammverschmiertes Spruchband, auf dem auch die Steuerprivilegien von Vale angeprangert werden: «Thank you for choosing Switzerland» (Danke, dass Sie sich für die Schweiz entschieden haben). Swissinfo
2. Februar 2019Die Zahl der Todesopfer steigt auf 115 und die der Vermissten auf 248. Die endgültige Bilanz beläuft sich auf 272 Todesopfer.

Diese zweite Katastrophe innerhalb von drei Jahren für Vale ereignete sich 65 Kilometer von Belo Horizonte entfernt, Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais und Wiege des Unternehmens. Ein beredtes Symbol.
Le Monde
18. Februar 2019Die brasilianische Staatsanwaltschaft verdächtigt Vertreter von Vale, die Inspektoren unter Druck gesetzt zu haben, um ihre ursprünglichen Prüfungsbefunde zu ändern. Im Mai 2018 warnte ein Experte des TÜV Süd, einer deutschen technischen Prüfanstalt, mindestens drei seiner Kollegen und einen Vale-Vertreter vor der Instabilität des Damms. Er wies auf die Notwendigkeit hin, Arbeiten zu beginnen, die die Mine für «zwei bis drei Jahre lahmlegen würden, um den gewünschten Effekt zu erzielen», so die Ermittlungen der brasilianischen Justiz. Der Bergbaukonzern Vale erhielt dennoch sein Zertifikat.

Für den brasilianischen Generalstaatsanwalt ist Brumadinho kein Unfall, sondern ein wissentlich in Kauf genommenes Risiko. 
Der Spiegel
18. März 2019Ein brasilianisches Gericht ordnet an, dass Vale 1 Milliarde Real (ca. 260 Millionen US-Dollar) an Geldern als Entschädigung für die betroffenen Gemeinschaften einfrieren soll.

Die brasilianischen Behörden geben an, entdeckt zu haben, dass Vale die brasilianische Einheit von Tractebel, einer Tochtergesellschaft des französischen Riesen Engie, beauftragt haben soll, die Stabilität des Brumadinho-Staudamms im September 2018 zu zertifizieren. Diese Zertifizierung folgte auf eine eingehendere Prüfung, die TÜV Süd zuvor im Juni vorgenommen und untergezeichnet hatte. «Die Inspektoren von Tractebel weigerten sich jedoch, die Sicherheit des Staudamms zu zertifizieren (...). Nach der Weigerung von Tractebel stellte Vale den TÜV Süd erneut ein, um die Zertifizierung im September durchzuführen, so das Dokument. Diese Prüffirma hat den Staudamm zertifiziert», so der Bericht des «Wall Street Journal».
Mining.com
17. Mai 2019Die brasilianische Justiz untersagt dem TÜV Süd die Durchführung weiterer Zertifizierungen. Sie sieht es als erwiesen an, dass die vom TÜV Süd bereitgestellten Daten und Informationen über den Betrieb des im Januar gebrochenen Staudamms «unzuverlässig waren und ohne die erforderliche Glaubwürdigkeit und technische Unparteilichkeit erstellt worden waren».Wiwo
9. Juli 2019Ein erstinstanzliches Urteil des Bundesstaates Minas Gerais erklärt Vale für die Behebung aller Schäden haftbar. Der Richter legt keinen Betrag fest, betont aber, dass die Auswirkungen auf die Umwelt und die Wirtschaft der Region berücksichtigt werden müssen.

Vale entgeht einem Betriebsverbot, aber seine bereits eingefrorene Milliarde Real bleibt gesperrt.
Wiwo
27. Mai 2020 Ein Richter im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais gibt einer von den Staatsanwälten beantragten einstweiligen Verfügung teilweise statt, indem er Vale anweist, 7,9 Milliarden Real (1,3 Milliarden Franken) für mögliche Geldstrafen im Zusammenhang mit dem Dammbruch zurückzustellen.

Dieser Betrag versteht sich zusätzlich zu der im März 2019 eingefrorenen Milliarde Real.
Reuters
24. Januar 2021 Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Minas Gerais erhebt Anklage gegen 16 Personen, die entweder mit dem Bergbauunternehmen Vale in Verbindung stehen oder standen, darunter gegen den ehemaligen CEO von Vale, Fabio Schvartsman, oder die mit dem TÜV Süd in Verbindung stehen (5 Personen), wegen vorsätzlicher Tötung. Auch die beiden Unternehmen werden wegen Umweltdelikten angeklagt. Zwei Jahre darauf wird Anklage beim brasilianischen Bundesgericht erhoben.

Der TÜV Süd muss sich nicht nur in Brasilien wegen Umweltverbrechen verantworten, sondern wird auch in seinem Heimatland Deutschland vor Gericht gestellt, wo eine Klage von 183 überlebenden Arbeitnehmenden sowie Eltern der Todesopfer erhoben wurde. Die erste Anhörung findet im September 2022 statt.
Ministério Público Minas Gerais
4. Februar 2021 Der Konzern Vale gibt bekannt, dass er eine Vereinbarung über die Zahlung von 37,6 Milliarden Real (6,3 Milliarden Franken) für «soziale und ökologische» Schäden nach der Katastrophe von Brumadinho abgeschlossen hat.Le Temps
24. Januar 2024 Die Klagen von Opfern gegen den deutschen Prüfkonzern TÜV Süd nehmen immer grössere Ausmasse an. Vor dem Landgericht München fordern nun mehr als 1’400 Kläger*innen insgesamt über 582 Millionen Euro Schadenersatz und Zinsen. Ein Rechtsgutachten über die Zulässigkeit der Klagen wird für Ende des Jahres erwartet.Der Spiegel
25. Januar 2024Das brasilianische Bundesgericht ordnet an, dass Vale, BHP und Samarco 47,6 Milliarden Real als Ausgleich für den kollektiven moralischen Schaden zahlen müssen, der durch den Einsturz des Fundão-Staudamms in Mariana verursacht wurde.

Der Betrag soll in einen von der Bundesregierung verwalteten Fonds fliessen und ausschliesslich in den von der Katastrophe betroffenen Gebieten verwendet werden. Eine Berufungsklage ist pendent.
Globo
29. April 2024Vale, BHP und Samarco unterbreiten den brasilianischen Behörden einen Vorschlag über eine Wiedergutmachungszahlung von 25 Milliarden US-Dollar für das Desaster von Mariana.

Brasilien und der Bundesstaat Espirito Santo lehnen diesen Vorschlag am 7. Mai 2024 ab, wohingegen der Bundesstaat Minas Gerais, in dem sich die Katastrophe abgespielt hat, sich zu Verhandlungen bereit erklärt.
Business & Human Rights

Lücken und Schwächen der Rechtsordnung

  • Fahrlässigkeit bei der Instandhaltung der Infrastruktur
  • Bergbaukonzern und Prüffirma schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu
  • Mangelnde Unabhängigkeit bei kritischen technischen Prüfungen (Audit), da die Prüfer dem Druck der Kunden ausgesetzt sind, die eine Lahmlegung des Betriebs verhindern wollen. Korruptionsgefahr
  • Versäumnis (oder Unfähigkeit) des Staates, private Unternehmen zu beaufsichtigen
  • Fehlen verstärkter Kontrollen für ausgesprochen kritische Infrastrukturen
  • Keine spezifische Aufsichtsbehörde im Rohstoffsektor und keine angemessenen Sorgfaltspflichten für die Händler