Schweizer WTO-Koordination fordert echte Entwicklungsrunde
6. Dezember 2005
Eine Woche vor Beginn der WTO-Ministerkonferenz in Hongkong fordert die «Schweizer Koordination Gerechter Welthandel» den Bundesrat auf, sich für eine Neuausrichtung der laufenden Verhandlungsrunde einzusetzen. Dazu müsse die Schweiz ihre übertriebenen Liberalisierungsforderungen bei den Industrie- und Dienstleistungsmärkten aufgeben, weil diese den armen Ländern mehr Schaden als Nutzen brächten. Die laufende WTO-Verhandlungsrunde sollte ursprünglich die Benachteiligung der Entwicklungsländer im Welthandel beheben. Heute verlangen die Industrieländer aber für Konzessionen im Agrarbereich von den Entwicklungsländern einen derart hohen Preis, dass ihre Benachteiligung im Welthandel fortgeschrieben würde. Nur die Rückbesinnung auf den ursprünglichen Zweck der Verhandlungsrunde werde die gegenwärtigen Blockaden überwinden können, sagten SprecherInnen der Koordination in Bern.
Peter Niggli, Geschäftsleiter von Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke, warnte an einer Medienkonferenz im Bern davor, Handelsliberalisierung mit Entwicklungschancen zu verwechseln. Die potentiellen Gewinne aus Handelsliberalisierungen würden in der Regel stark übertrieben. Das gelte auch für die heftig umstrittene Öffnung der Agrarmärkte. Davon profitierten nur wenige grosse Exportländer, «während die Mehrheit der Entwicklungsländer und die Bauern der Industrieländer zu den Verlierern gehören», sagte Niggli.
Umgekehrt würden die Kosten der Handelsliberalisierungen für die einzelnen Länder meistens unter den Tisch gewischt, erklärte Niggli weiter. Dass diese erheblich sind, zeigte Michel Egger, Koordinator für Entwicklungspolitik bei Alliance Sud, am Beispiel der Industriemärkte. Die reichen Länder, darunter die Schweiz, fordern eine massive Reduktion der Einfuhrzölle, mit denen Entwicklungsländer ihre jungen Industrien schützen. «Industriezölle sind für arme Länder jedoch ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument und eine zentrale Einnahmequelle», erklärte Egger. Eine massive Reduktion schränke den wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum stark ein, führe zu Desindustrialisierung und Raubbau an der Natur und beraube Entwicklungsländer wichtiger Ressourcen im Kampf gegen die Armut.
Auch die Forderung der Industrieländer nach der weiteren Öffnung der Dienstleistungsmärkte habe für Entwicklungsländer schwerwiegende Konsequenzen, warnte Marianne Hochuli, Handelsexpertin bei der Erklärung von Bern. Von den geforderten Marktöffnungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wasser, Finanzdienstleistungen und Tourismus profitierten «in erster Linie die leistungsstarken Dienstleistungsbranchen des Nordens, während Arme zunehmend von der Grundversorgung ausgeschlossen werden». Hochuli wandte sich insbesondere gegen die Forderung der EU und der Schweiz an die Entwicklungsländer, eine Mindestanzahl von Dienstleistungssektoren der internationalen Konkurrenz zu öffnen: «Damit wird es für diese Länder sehr schwierig, eine ihrem Entwicklungsstand angemessene Öffnung vorzunehmen, wie dies das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS bisher ermöglichte».
Kernelemente einer Entwicklungsrunde
Um die Doha-Verhandlungsrunde zu deblockieren, müsse sie wieder stärker auf die Interessen der Entwicklungsländer ausgerichtet werden, forderte namens der «Schweizer Koordination Gerechter Welthandel» Sonja Ribi, Projektleiterin Politik und Internationales bei Pro Natura. Die Schweiz und die anderen Industriestaaten müssten davon wegkommen, für Zugeständnisse an die Entwicklungsländer massive Gegenforderungen zu stellen, erklärte Ribi. In der Landwirtschaft müssten die Exportsubventionen abgeschafft werden; jedes Land soll aber das Recht erhalten, seine Nahrungsproduktion «durch geeignete Schutzmassnahmen zu sichern». Beim Dienstleistungsabkommen GATS dürften keine Marktöffnungen verlangt werden, die die Entwicklungsländer nicht von sich aus offerierten. Bei den Industriegütern müsse den Ländern des Südens genügend Spielraum gewährt werden, um allfällige Zollsenkungen flexibel je nach Sektor und Gütergruppen variieren zu können.
Die WTO-Bestimmungen über die besondere und differenzierte Behandlung müssten armen Ländern das Recht geben, ihre Wirtschaftsförderungsstrategien «durch staatliche Interventions-, Unterstützungs- und Selektionsmechanismen zu begleiten». Schliesslich müssten «die natürlichen Ressourcen von der Liberalisierung ausgenommen werden», forderte Ribi weiter. «Insbesondere Tropenwälder sind bereits heute wegen der ungezügelten Abholzung rasant am Verschwinden und die Fischbestände weltweit durch Überfischung bedroht. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen ist aber für die lokale Bevölkerung ein wesentliches Element für eine nachhaltige Entwicklung».