Die Schweiz braucht eine Sondersteuer auf Zufallsgewinnen!
Manuel Abebe, 22. Juni 2022
«Getreideblockade im Schwarzen Meer» … «Ansturm auf Sonnenblumenöl» … «Palmölexport-Stopp in Indonesien» … «China bunkert tonnenweise Lebensmittel» … «Weizenexport-Stopp in Indien» – unablässig gehen seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine die Berichte ein. Die globale Ernährungslage spielt verrückt. Die Folgen des Kriegs spitzen sich immer mehr zu: Zuletzt warnte UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor einer «beispiellosen Welle von Hunger und Elend».
Auch in der Parallelwelt der Börse ist mächtig was los: Leitzinserhöhungen, Inflationsängste und sinkende Konsumausgaben dämpfen die Gewinnprognosen der Tech-Giganten. Weil ihre Silicon-Valley-Luftschlösser gleich reihenweise platzen, versuchen die Spekulanten ihr Glück in den volatilen Agrarmärkten. Eine Analyse des Recherchekollektivs Lighthouse Reports zeigte im Mai: Nie dagewesene Milliardensummen fliessen seit Kriegsbeginn in Agrarfonds. Die nimmersatte Suche nach spekulativen Gewinnen treibt die Preise auch in der realen Welt weiter hoch.
Das ist problematisch, denn genügend Nahrungsmittel für alle gäbe es nach wie vor – auch wenn Russland die ukrainischen Häfen blockiert. Nur muss das UN-Welternährungsprogramm seine Lebensmittel für die Bedürftigsten nun zu Wucherpreisen einkaufen: Pro Monat wirft das Programm aktuell 71 Millionen Dollar mehr auf. Laut swissinfo genügend, um vier Millionen Menschen mit täglichen Lebensmittelrationen zu versorgen. Nach der Nahrungsmittelkrise 2007–2008 befeuert die Spekulationsgier also nun einmal mehr den Welthunger.
Ein «guter Start» ins Jahr
Verdächtig still bleiben, übrigens seit Kriegsbeginn, die Agrarhändler mit Handelsbüros in der Schweiz. Während die Geschäfte weitgehend normal weiterlaufen, bringen ihnen die explodierenden Preise an den Rohstoffbörsen nie dagewesene Gewinne ein. In Hochrechnungen für das laufende Geschäftsjahr geben sich die Händler ungewohnt euphorisch.
Bunge etwa – Getreidehandelsriese mit Ableger in Genf – berichtet, dass 2022 zwar nicht dieselbe «Magnitude an margensteigernden Opportunitäten» biete wie 2021. Dennoch sehe die Firma «mögliche Vorteile, wenn die hohe Nachfrage und das enge Rohstoffangebot andauern».
Auch die Firma Olam, die in Nyon mit Getreide handelt, liess an der Generalversammlung im Mai trotz der «geopolitischen Krise» einen «guten Start ins 2022» verlauten. Der Cashflow im ersten Quartal sei im Vergleich zum Vorjahr um 54% gestiegen. Läuft bei Olam: Anfang Juni gab das Unternehmen bekannt, Aktienrückkäufe starten zu wollen – ein bewährtes Mittel, um überschüssige Gewinne zu verwerten.
Besonders Händler, deren Vorzeigeprodukt einen unvorhergesehenen Kursanstieg durchlebt, geniessen gerade gute Zeiten. So etwa Socfin – grösster Palmölproduzent Afrikas mit Hauptsitz in Fribourg. Palmöl bricht auch wegen der Ausfälle ukrainischen Sonnenblumenöls gerade alle Kursrekorde. Socfin berichtete seinen Investoren an der Generalversammlung Ende Mai von einer «quasi ununterbrochenen Hausse seit Juni 2020». Die Firma schätzt den Reingewinn des laufenden Jahres auf 200 Millionen Euro, mehr als das Vierfache der Jahre zwischen 2015–2019.
Auch ADM mit Handelssitz in Rolle erwartet steigende Profite im laufenden Jahr. Branchenprimus Cargill mit Sitz in Genf erzielte bereits im letzten Jahr die höchsten Gewinne des 156-jährigen Firmenbestehens. All diese Gewinne haben eines gemeinsam: Sie sind in dieser unerwarteten Höhe ohne Zutun der Firmen entstanden. Ein Nebenprodukt der Coronakrise, des Kriegs, der sich anzeichnenden Hungersnot, der Börsenspekulation. Purer Zufall.
Zufallsgewinne an die Bedürftigen
Die WOZ brachte bereits im Mai die Idee der Zufallsgewinnsteuer – auch «windfall tax» genannt – auf den Tisch. Krisenbedingte Mehreinnahmen sollen so der Allgemeinheit statt den Konzernen zukommen. Länder wie Grossbritannien, Italien, Spanien und Griechenland haben bereits höhere Steuern auf Zufallsgewinne beschlossen. Die deutsche Ampelkoalition beschäftigt sich mit der Idee.
Die Diskussionen um eine «windfall tax» drehen sich, übrigens auch in der Schweiz, primär um den Energiesektor. Die sich anbahnende Lebensmittelkrise macht aber klar: Diese Steuer braucht es gerade auch im Agrarrohstoffhandel. Nirgendwo sonst sind öffentliche Gelder so nötig wie bei der Lebensmittelnothilfe. Das UN-Welternährungsprogramm ist chronisch unterfinanziert, unterstreicht beinahe in jeder Medienmitteilung, wie dringend es weitere Fördermittel benötigt. Laut der «HungerMap» des Programms, die in Echtzeit den Welthunger dokumentiert, hatten seit Anfang Jahr 864 Millionen Menschen weltweit nicht genügend zu essen.
Die Schweiz steht besonders in der Pflicht: Die weltweit grössten Getreidehändler handeln hier Schätzungen zufolge rund die Hälfte des weltweiten Getreides. Auch andere Agrarrohstoffe wandern en masse über die Bildschirme der hiesigen Trader. Als globale Agrarhandelsdrehscheibe muss die Schweiz ihre Verantwortung wahrnehmen und die Krisengewinne der Agrarhändler mit einer «windfall tax» an die Bedürftigsten umverteilen.
Ungenügende Bundesratsantwort – einmal Nachsitzen bitte!
Wie eine Bundesratsantwort – auf Anfragen von Politiker*innen aus der Mitte und der FDP, wo die Idee mittlerweile auch Sympathien geniesst – in der Sommersession zeigte, ist die Schweiz noch weit von einer «windfall tax» entfernt: Die Abgrenzung von «Übergewinnen» sei schwierig, eine Sondersteuer standortschädlich. Nach der Begründung für die knappe Antwort gefragt, entgegnete der Bundesrat eine Woche später, er verfüge «über keine Schätzungen von Gewinnen einzelner Unternehmen oder Branchen.» Zudem fehlten «klare Kriterien zur Abgrenzung von sogenannten ‹Übergewinnen›.»
Heisst konkret: Ueli Maurers Finanzdepartement hat einmal mehr «kä Luscht», über den Tellerrand Schweiz zu schauen. Doch auch wenn die Schweiz eine Steuer auf Zufallsgewinnen mit Rohstoffgeschäften einführen wollte – der Bundesrat tappt weiterhin im Dunkeln: Selbst die Gewinne der Rohstoffbranche kann er nicht einschätzen. Der unregulierte Rohstoffhandel bleibt eine Blackbox. Diese Hilflosigkeit zeigt deutlich: Die Schweiz braucht dringend eine Rohstoffmarktaufsicht.
«Wir sind nicht schlau genug, um alles dem Markt zu überlassen.» Ha-Joon Chang
Manuel Abebe geht bei Public Eye den Geschäften im Agrarrohstoffhandel genauer auf den Grund. Wenn die Märkte (oder die daran Teilnehmenden) verrücktspielen, versucht er mit einer kritischen Ruhe aufzuzeigen, wo die Schwächsten vergessen gehen.
Kontakt: manuel.abebe@publiceye.ch
Twitter: @manuelabebe
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