Die wandernde Zivilgesellschaft erobert Davos
Maxime Ferréol, 24. Januar 2020
Landquart am Sonntag 19. Januar 2020, Mittagszeit. Eine Menschenmenge versammelt sich vor dem Bahnhof des bündnerischen Dorfs. Festlich gestimmt, aber voller Entschlossenheit sind über tausend Personen zusammengekommen, um das Debakel des Weltwirtschaftsforums anzuprangern, das seit Jahren verspricht, die Klimakrise anzugehen, dessen klägliches Scheitern aber immer offensichtlicher wird.
Fürs Klima nach Davos
Auf gut fünfzig Kilometern geht es auf dem Marsch für das Klima nach Davos, wo in drei Tagen das fünfzigste Jahrestreffen der weltweiten Wirtschafts- und Politelite stattfindet.
Die Demowanderung der neuen Art wird von zahlreichen Organisationen unterstützt, welche die Finten des WEF seit langem kritisieren. Darunter auch Public Eye: Mit den «Public Eye Awards» verliehen wir bis 2015 Schmähpreise an Unternehmen, die durch besondere Verantwortungslosigkeit in den Bereichen Menschenrechte und Umwelt glänzten. Seither trugen wir den Kampf für verbindliche Regeln mit einer breiten NGO-Koalition in der politischen Arena aus, und im Rahmen der Konzernverantwortungsinitiative wohl auch bald vor dem Schweizer Stimmvolk. Vor fünf Jahren begrub Public Eye das WEF und sein unbedeutendes und folgenloses Geschwätz im Rahmen einer symbolischen Abschiedszeremonie, die von den Yes Men pompös inszeniert wurde.
Doch da das Forum auf seinem Fortbestehen beharrt, beschliesse ich, mich den Marschierenden und ihrer Forderung anzuschliessen, dass Klimagerechtigkeit vor Profitgier kommen und das WEF endlich verschwinden soll, und zwar definitiv.
«Heisser als das Klima»
Bevor wir uns auf den Weg machen, halten Aktivistinnen und Aktivisten unterschiedlichster Couleur mitreissende Reden und die Balladeering Tinkers bringen die Menge mit ihrem Irish Folk zum Tanzen. Dann bildet sich ein langer Zug in Richtung Schiers, dem ersten Etappenziel der dreitägigen Wanderung.
Unter den aus zahlreichen Ländern angereisten Teilnehmenden jeden Alters befinden sich Clowns, Koalas, Blumen und sogar «Sustaina Claus», ein Öko-Weihnachtsmann. Der Umzug ist entschlossen, sich selbst und der Absurdität des WEF, umbenannt in «World Economic Failure» und «World Economic Farce», mit Ironie zu begegnen. Während der ganzen Wanderung hört man Spottlieder und kritische Slogans in sechs (!) Sprachen. Die Lokalbevölkerung begrüsst die Teilnehmenden, die sich als «heisser als das Klima» bezeichnen, mit einem wohlwollenden Lächeln.
Nach gut zehn Kilometern bei Schnee kommt die bunte Menge in Schiers an, wo die Aktivistinnen und Aktivisten die Nacht in der von der Gemeinde zur Verfügung gestellten Turnhalle und bei Familien verbringen können, die die Bewegung unterstützen. Die herzliche Unterstützung der Lokalbevölkerung wird auf der ganzen Strecke zu spüren sein.
Wie zuhause
Gestärkt und entschlossen geht es am frühen Morgen wieder los. Nächstes Ziel: Klosters, etwa 20 Kilometer entfernt. Der Tag verspricht lang zu werden, doch die Entschlossenheit hält an. In Jenaz lädt uns ein Restaurant zu einer Rast ein und bietet uns warmen Tee an. In einem kleinen Dorf entdecken wir eine Schale voller Süssigkeiten mit einer ermutigenden Botschaft. Später stellt uns eine Sägerei freundlicherweise ihren Standort für die Mittagspause zur Verfügung. Die Unterstützung der Bevölkerung ist ermutigend.
Bei Einbruch der Nacht erreichen wir Klosters. Doch bevor wir uns schlafen legen, wird an einem Rundtisch über die Verbindung zwischen dem WEF und dem Klimawandel, Ungleichheiten und die Schwächung des Multilateralismus diskutiert. Das hochkarätig besetzte Podium besteht aus Jennifer Morgan (Executive Director, Greenpeace International), Harris Gleckman (Senior Fellow, Center for Governance and Sustainability UMass Boston), Njoki Njehu (Koordinatorin panafrikanisches Netzwerk von Fight Inequality), Silva Lieberherr (Multiwatch), Mattia (Collective Climate Justice Basel) und Luisa Neubauer (Fridays For Future).
Bei der Diskussion geht es unter anderem um die Verknüpfung zwischen Banken und fossilen Brennstoffen, die Forderung nach der «Abschaffung von Milliardären», die inzestuöse Beziehung zwischen dem WEF und den Vereinten Nationen und das Engagement der Schweizer NGOs gegen die Intransparenz multinationaler Konzerne wie Glencore, Novartis und Syngenta. Man fühlt sich zuhause.
Kurvenreiche Zielgerade
Nach einem wohlverdienten und erholsamen Schlaf nehmen die Klimawandernden die letzte Etappe in Angriff. Da sich die Behörden geweigert haben, uns die Kantonsstrasse benutzen zu lassen, gelangen wir durch den Wald nach Davos.
Unter dem ständigen Hin- und Her der Hubschrauber, dem privilegierten Transportmittel der Prominenz, die in Davos die Welt zu retten behauptet, bewegen wir uns im Gänsemarsch auf den verschneiten Pfaden fort. Man hatte uns gewarnt, dass diese letzte Strecke alles andere als ein leichter Spaziergang sei, aber unsere Motivation ist stärker als die Krämpfe.
Mehrmals überqueren wir die Kantonsstrasse, wo die Polizei in Kampfmontur sicherstellt, dass wir nicht von unserem Weg abweichen. Wir nutzen die Gelegenheit, um eine kurze Pause auf dem Asphalt einzulegen und die Limousinen auf ihrer Fahrt nach Davos ein wenig zu stören.
Nach etwa fünfzehn steilen Kilometern erblickt die Truppe schliesslich den Dreh- und Angelpunkt der weltweiten Ungerechtigkeiten: die Stadt Davos und ihr Kongresszentrum, wo sich die politische und wirtschaftliche Crème de la Crème ein Stelldichein gibt.
Immer lauter wird der Gesang, während wir die verbotene Stadt betreten. Wir versammeln uns auf einem Platz, wo wir auf Gruppen von Aktivistinnen und Aktivisten stossen, die auf anderen Wegen hierher gelangt sind, manche mit dem Zug, andere auf Skiern.
Es wird gesungen, getanzt und gefeiert – die Zeichen stehen auf Feststimmung, doch sie ist durchdrungen von einer gewissen Wut: Das Forum steht noch immer und seine Gäste meinen die Welt weiterhin nach ihrem Gutdünken beherrschen zu können.
Aber der Widerstand verschafft sich Gehör und wird immer stärker. Nach dem grossen Erfolg dieser Erstausgabe wird der Klimamarsch nächstes Jahr bestimmt viele neue Anhängerinnen und Anhänger zählen. Denn aufgeben werden wir nicht.
« Quand le sage montre la lune, le lecteur pointilleux ne voit que les deux espaces. »
Public Eyes Wortwandler, Zwiebelfischer und Oberkommaversetzer Maxime Ferréol jongliert mit Sprachen, damit die Weisheit seiner Kolleginnen und Kollegen über Sprachgrenzen und Röstigraben hinweg strahlen kann. Ausserhalb unseres Büros engagiert er sich als aktivistischer Dolmetscher und hilft der Zivilgesellschaft bei der Überwindung von Sprachhindernissen.
Kontakt: maxime.ferreol@publiceye.ch
Blog #PublicEyeStandpunkte
Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.