Entkoppelt von der Realität

Muss unsere Wirtschaft ewig wachsen? Soll unsere Wirtschaft ewig wachsen? Kann unsere Wirtschaft ewig wachsen? In der EU hat man begonnen, diese Fragen auf höchster Ebene zu stellen. Der Bundesrat hingegen winkt ab: Es sei ja weitgehend gelungen, das Wirtschaftswachstum von Umweltschäden zu entkoppeln.

Und wieder droht die Schweiz auf ihrer Insel mitten in EU-Europa eine Entwicklung zu verschlafen.  Russland-Sanktionen, Regulierung des Rohstoffhandels? Ja, auch. Die Rede ist hier jedoch von einer Entwicklung, die in der Schweiz fast komplett unter dem Radar von Politik und Medien durchfliegt – aber das Potenzial hat, zu den Wurzeln vieler Umwelt- und Menschenrechts-Probleme vorzudringen.

Unweit der Küsten unserer schönen politischen Insel sind nämlich Aktivist*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen dabei, einen der zentralen Glaubenssätze unseres ökonomischen Systems infrage zu stellen. Es geht um die Prämisse, dass unsere Wirtschaftsleistung unaufhörlich wachsen muss. Und dass diesem Ziel alle anderen – etwa soziale und den Schutz der Umwelt betreffende – untergeordnet sind.

Finstere Miene in der Tagesschau

Dabei ist schon die Messgrösse, das BIP, sehr fraglich. Denn es wurde nicht geschaffen, um die gesellschaftliche Wohlfahrt zu messen: So wirken sich Naturkatastrophen, steigende Kriminalität oder eine Zunahme von Verkehrsunfällen potenziell positiv auf das BIP aus, weil sie Wirtschaftsleistungen wie Aufräumarbeiten, Polizeieinsätze oder Spitalbehandlungen nach sich ziehen. Auch unterscheidet das BIP nicht, ob die Reichen reicher und die Armen ärmer wurden oder alle mehr haben. Doch der Glaube daran, dass ein starkes Wirtschaftswachstum zu stetig steigendem Wohlstand und Glück für alle führt, ist tief in uns verankert. Tief eingebrannt ist die finstere Miene, mit der der Tagesschausprecher jeweils verkündete, wenn das Wachstum zurückgegangen ist. Hinzu kommt, dass unsere Sozialversicherungen und Renten tatsächlich an Wirtschaftswachstum gekoppelt sind sowie der simple Fakt, dass sich ein stetig wachsender Kuchen bequemer aufteilen lässt. Dies alles macht Wachstumskritik zu einem schwierigen Thema. Politiker*innen von rechts bis weit nach links fürchten - nicht ganz zu Unrecht - sich die Finger daran zu verbrennen.

Doch in Europa bewegt sich etwas. So hat diesen Frühling die Konferenz «Beyond Growth» im EU-Parlament stattgefunden (hier lassen sich mit Klick auf die Titel der einzelnen Programmpunkte die Debatten und Beiträge nachhören), von der viele der – oft jungen – Teilnehmenden euphorisiert wieder zurückreisten. Die Aufbruchstimmung war, auch über den Livestream, fast mit Händen zu greifen.

In der EU wird über das Wachstum hinausgedacht: Die Diskussionen von Tag 1 der «Beyond Growth»-Konferenz im EU-Parlament, grafisch umgesetzt.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) trat an der Konferenz auf und forderte zumindest «ein neues Wachstumsmodell». Und selbst die OECD, die globale Vereinigung der wirtschaftsstarken Länder, spricht heute in diesem Zusammenhang von der «Notwendigkeit einer neuen wirtschaftlichen Herangehensweise» und eines «neuen ökonomischen Narrativs». Das sind noch keine Forderungen nach einer Abschaffung des Wachstums-Dogmas, aber doch Feststellungen, dass es so nicht weitergehen kann. 

«Vom guten Gefühl, keinen Verstand zu haben»

Und in der Schweiz? Kein Schweizer Medium hat über die Veranstaltung in Brüssel berichtet. Ein guter Indikator dafür, wo das Thema in der politischen Debatte hierzulande steht, ist, dass weder die Weltwoche noch der Nebelspalter sich darum bemühten, einen Verriss zu schreiben – so, wie es etwa das deutsche liberal-konservative Polit-Magazin Cicero unter dem schönen Titel «Vom guten Gefühl, keinen Verstand zu haben» tat (womit der Autor nicht das Ignorieren der negativen Effekte eines ewigen Wirtschaftswachstums meinte, sondern dass die Konferenzteilnehmenden nicht darauf vertrauen wollen, dass alles gut wird, wenn man nur den Markt machen lässt). In der Schweiz findet das Thema Wachstumskritik höchstens mal in der linken WOZ Erwähnung

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Schlauer als den Kopf in den Sand zu stecken: Das Ende des Wachstums planen anstatt den Verfall - Demonstration in Strassburg, Februar 2022.

In der Politik ein ähnliches Bild: Im Bundeshaus beschränkt sich die «Debatte» zum Thema auf eine Interpellation der Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser vom Juni 2022, in der sie auf die Problematik der Wachstumsfixierung und den entsprechenden Prozess innerhalb der OECD aufmerksam macht und, etwas vereinfacht gesagt, fragt, ob sich der Bundesrat auch Gedanken dazu mache. Die Antwort des Bundesrats darauf ist so vielsagend wie die Verfahrensnotiz: Selbstverständlich sorge er sich um die Umwelt, heisst es darin sinngemäss, aber eine Steigerung der Wirtschaftsleistung bleibe zentral für die Wohlfahrt der Bevölkerung. Wichtig sei, dass die Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werde. Dies sei in den meisten Bereichen heute der Fall.

Diskussion verschoben

Bitte? Eine absolute Entkoppelung würde bedeuten, dass das stete Wachsen der Wirtschaft ganz ohne zusätzlichen Energie- und Ressourcenverbrauch vor sich gehen könnte. Das klingt nach Zauberei und ist es auch. Das «grüne Wachstum» ist jedenfalls längst empirisch als Mythos entlarvt. Es würde einen deshalb interessieren, wie der Bundesrat seine selbstsichere Behauptung begründet. Doch die Mühe dazu nimmt er sich in seiner Interpellationsantwort nicht einmal. Warum auch? Es fragt ja niemand nach. «Diskussion verschoben» ist als Stand des Vorstosses in der Geschäftsdatenbank des Bundes vermerkt. 

Angesichts unseres Zusteuerns auf katastrophale 2,7 Grad Erderwärmung, eines wachsenden Plastikkontinents im Meer, einer immer schnelleren Fast Fashion mit verheerenden Folgen für Näher*innen und Umwelt, ... die Liste liesse sich fast beliebig verlängern ... Wäre es vielleicht eine gute Idee, die Diskussion auch hierzulande einmal aufzunehmen, ob das alles nicht doch etwas mit einer zu ewigem Wachstum verdammten Wirtschaft zu tun hat – und ob es nicht Alternativen dazu gäbe?

«Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.» Karl Valentin 

Florian Blumer recherchiert bei Public Eye und schreibt Reportagen. Als Kleinster der Klasse hat er sich als Primarschüler nach Wachstum gesehnt. Heute ist er trotzdem froh, dass es irgendwann ein Ende hatte und er nicht unendlich und exponentiell weiterwächst. 

Kontakt: florian.blumer@publiceye.ch

Blog #PublicEyeStandpunkte

Unsere Fachleute kommentieren und analysieren, was ihnen unter den Nägeln brennt: Erstaunliches, Empörendes und manchmal auch Erfreuliches aus der Welt der globalen Grosskonzerne und der Wirtschaftspolitik. Aus dem Innern einer journalistisch arbeitenden NGO und stets mit der Rolle der Schweiz im Blick.  

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