Mit einem verhunzten Bernhardiner und Wilhelm Tell auf Stimmenfang
Géraldine Viret, 28. Oktober 2020
«Die Schlammschlacht um die Initiative beginnt» oder «Nur ja kein Wort über Menschenrechte» titeln die Medien. Einige Wochen vor dem 29. November tobt der Abstimmungskampf wie kaum je einer zuvor. In dieser erbitterten Auseinandersetzung geht es um jede Stimme. Nachdem ich Tante Léandre, Onkel Jacky und der Hälfte meiner Telefonkontakte eine Postkarte geschickt habe, will ich auch Karten an ein Zielpublikum senden, das gemeinhin als verloren gilt: unseren Widersachern.
Economiesuisse, Swissholdings, der Zürcher FDP- Ständerat Ruedi Noser, die Waadtländer GLP-Nationalrätin Isabelle Chevalley und selbst unsere Bundesrätin Karin Keller-Sutter… ich würde sie ja gerne als «Gegner» bezeichnen, wenn sie sich besser verhalten würden. Aber nervös wie sie sind, nachdem diese lästigen orangen Fahnen ihnen schon seit Sommer den Sonntagsspaziergang verderben, haben die Konzernlobby und ihre Handlanger schon lange eine rote Linie überschritten.
Um dem unglaublichen Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die Initiative die Stirn zu bieten, kam ihnen nichts Besseres in den Sinn, als eine Kampagne mit platten Lügen oder Fehlinformationen zu führen.
Ihre Strategie ist klar: Sie wollen das Stimmvolk davon überzeugen, dass die Initiative eine schreckliche Gefahr für die Schweizer Wirtschaft darstellt und für «die Menschen in Entwicklungsländern wie ein Bumerang» wirkt. Und sie wollen dem Gegenvorschlag des Parlaments zum Durchbruch verhelfen, der in Kraft tritt, sofern die Initiative an der Urne Schiffbruch erleidet. Sie stellen diesen als einzig möglichen Weg dar, um die Menschenrechte und die Umwelt zu schützen, ohne unseren sakrosankten Wohlstand zu gefährden. Notfalls auch mit platten Lügen oder Fehlinformationen. So spielen unsere Widersacher mit dem Feuer und verraten eines der grundlegenden Prinzipien der direkten Demokratie: das Führen von Debatten auf der Basis von Fakten.
Der verhunzte Bernhardiner
Nichts kann die argumentativen Nöte der Konzernlobby besser illustrieren als die Plakate des parteiübergreifenden Komitees gegen die Initiative und ihr Slogan «Helfen ja, aber doch nicht so!». Hinter dieser gloriosen Idee steckt mit Sicherheit stundenlanges Brainstormen: ein Bernhardinerhund, der sich in den Schwanz beisst? Oder besser Wilhelm Tell, der den Apfel verfehlt und seinem Sohn einen Pfeil mitten in die Birne schiesst? Wenn ich nur schon daran denke, zittert mein Pass mit dem Schweizerkreuz.
Dieses Komitee schreckt also nicht davor zurück, die helvetische Armbrust und die Hacke aus Burkina Faso – wir kommen noch darauf zurück – zu zücken, um das Stimmvolk davon zu überzeugen, dass diese «brachiale» Initiative am Ziel vorbeischiesst, der Wirtschaft schadet und kontraproduktiv wirkt. FDP-Präsidentin Petra Gössi etwa sagt: «Die Initiative hat einen Dominoeffekt auf die Schweizer KMU und schadet unserer Wirtschaft, die schon stark unter den Folgen der Covid-Krise leidet.» Ja, unsere Gegner, die wissen, wie man auf die Tränendrüse drückt.
Denn das Schicksal der KMU ist eines der heissen Eisen der Debatte und wohl das bezeichnendste Beispiel für die alternativen Fakten, die das Nein-Lager propagiert. Um das Stimmvolk von einem «zukunftsgerichteten» Gegenvorschlag zu überzeugen, warnt es davor, dass die Initiative die KMU betreffe; «gerade in der aktuellen Situation sollten wir unseren KMU nicht solche Steine in den Weg legen». Stellen Sie sich nur mal dieses katastrophale Szenario vor: Ihr Coiffeur muss alle seine Lieferanten überprüfen, bricht unter einem endlosen Papierkrieg zusammen und kann Ihnen nicht mehr das Haar schneiden! Aber Sie können beruhigt sein: Die Behauptungen von Economiesuisse wurden selbst von Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler als «Unsinn» kritisiert, der von der Konzernlobby im August «Glaubwürdigkeit und gute Argumente» gefordert hatte. Umsonst.
Der Zahlenkrieg
Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter zeigte jüngst ein Flair für Übertreibungen und beschwörte die Schreckensvorstellung einer immens hohen Zahl von betroffenen KMU herauf. «Nach Schätzungen sind sicher 80’000 Unternehmen von der Initiative betroffen», zitierte die Bundesrätin vor den Medien eine Studie, die im Mai von der liberalen Organisation Succèsuisse (c/o Furrerhugi) publiziert wurde, um die Parlamentarier zu beeinflussen. Dieser handgestrickten Studie, welche die Bestimmungen des Initiativtextes nicht berücksichtigt, fehlt es komplett an Glaubwürdigkeit.
Die angsteinflössenden Zahlen sind reine Panikmache. Die Bäcker, die Müller oder die Drucker werden mitgezählt, dabei werden diese nie und nimmer zu den wenigen KMU in Risikosektoren gehören, die der Initiativtext betrifft. Aber für unsere Justizministerin ist das kein Grund, den Fuss vom Gaspedal zu nehmen, weiss sie doch genau, wie man eine solche Initiative oder einen wirksamen Gegenvorschlag bekämpfen muss – indem man seinen Einflüsterern gut zuhört und unliebsame Details ausblendet.
Eine Bedrohung für Afrika
Weil in der Schweiz seit einiger Zeit ein progressiver Wind weht, haben die Widersacher bald realisiert, dass die üblichen Drohungen nicht ausreichen werden, um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die den Schutz von Menschenrechten und Umwelt mit Herzblut vertreten. Deshalb muss man ihnen das gute Gewissen nehmen, im Namen der Betroffenen! (Spoiler: Völliger Quatsch, sagen Entwicklungsökonomen.)
Die Hauptrolle in dieser Farce hat die Waadtländer GLP-Nationalrätin Isabelle Chevalley übernommen. Sie lässt sich in traditioneller afrikanischer Kleidung und mit einer Hacke aus Burkina Faso fotografieren, um den Initianten und ihrer «neokolonialistischen» Initiative eins auszuwischen, indem sie die afrikanische Bevölkerung instrumentalisiert. Sie, die vorgibt, eine Nuance in die Debatte einbringen zu wollen, hat in Burkina Faso bereits alle vorgewarnt, und insbesondere den Wirtschaftsminister: Wenn diese Initiative durchkomme, würden alle Schweizer Unternehmen das Land verlassen. Auch wenn sie für Zulieferer und Subunternehmer nicht haftbar gemacht werden können.
Und das kann Isabelle Chevalley natürlich «nicht zulassen». Deshalb nimmt die Parlamentarierin, die der Lobby der Rohstoffhändler STSA nahesteht, am Kreuzzug gegen die Initianten und insbesondere Solidar teil. Sie war sich nicht zu schade, einen lokalen Journalisten einzuspannen, um angeblich gestellte Fotos von Kindern auf Baumwollfeldern zu entlarven und so das Hilfswerk zu diskreditieren. Auch Schläge unter der Gürtellinie sind erlaubt!
Denn bei unseren Widersachern drehen selbst emotionale Argumente ins Absurde. Im Ausland nicht zu machen, was in der Schweiz nicht erlaubt ist, wird plötzlich neokolonialistisch und erhöht die Armut vor Ort. FDP-Ständerat Ruedi Noser geht noch weiter: «Die Initiative schadet den Menschenrechten», sagte er kürzlich im «Club» von SRF. Man solle die Unternehmen doch «zusammen mit der Bevölkerung etwas entwickeln lassen». Und wenn etwas unter dem Titel «Ausbeutung» läuft, schliessen wir am besten die Augen!
Ein Gegenvorschlag, der völlig überholt ist
«Wussten Sie, dass die Schweiz mit dem Gegenvorschlag weltweit zur Vorreiterin in Sachen Unternehmensverantwortung würde?», fragt Economiesuisse auf Twitter. Ein Enthusiasmus, der beinahe vergessen lässt, dass die Konzernlobby sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen einen wirksamen Gegenvorschlag gestemmt hat. Doch der Alibi-Gegenvorschlag, der Bundesrätin Karin Keller-Sutter von Swissholdings eingeflüstert worden ist, war dann plötzlich genehm. Kein Wunder: Er ist völlig zahnlos.
Der Beweis: Weil sich gezeigt hat, dass tolle Berichte auf Hochglanzpapier nichts bringen, plant die EU strengere Vorschriften, die weit über jene des Schweizer Gegenvorschlags hinausgehen. «Damit erledigt die Schweiz ihre Hausaufgaben, schnell und präzise», lobt Economiesuisse den Gegenvorschlag.
Nur ein JA! am 29. November macht aus dieser Lüge Realität.
«Mit zartem Herzen, aber spitzer Feder setze ich mir gerne eine Clownsnase auf und mime Hochstapler, um sie zu entlarven.»
Géraldine Viret, spezialisiert auf vergleichende Literaturwissenschaft und Unternehmenskommunikation, arbeitet seit fast zehn Jahren als Medienverantwortliche und Redakteurin für Public Eye. Viel Geduld und ein gewisses Mass an Ironie sind unabdingbar, um sich auch bei starkem Gegenwind für eine gerechtere Welt einzusetzen.
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