Prinzipien im Ausverkauf: 10 Jahre Freihandelsabkommen Schweiz-China
Angela Mattli, 26. Juni 2024
Am 19. März 2021 war sie endlich da. Mit grossem medialem Trommelwirbel präsentierte Bundesrat Ignazio Cassis stolz die China-Strategie 2021-2024. Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Interessen – China ist nach der EU und den USA der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz – wurde explizit festgehalten, dass Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ebenfalls zu den Schweizer Interessen gehören. So wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass die Beziehung zwischen den zwei Staaten auf dem Respekt der individuellen Grundrechte beruhe und die Menschenrechte in allen bilateralen und multilateralen Beziehungen mit China konsequent thematisiert werden sollen. Bern sei bereit, «die sich verschlechternden Bedingungen für Dissident*innen und Minderheiten in China anzusprechen», sicherte Cassis damals vor den Medien zu. «Die Schweiz zögert nicht, Kritik zu üben, wenn die Situation dies erfordert». Die Reaktion auf die Strategie liess nicht lange auf sich warten: Der chinesische Botschafter berief eine Pressekonferenz ein und äusserte lautstarke Kritik. Ein absolutes Novum.
Schweizer Selbstbewusstsein dauerte drei Tage
Eine neue Ära in der Beziehung Schweiz-China? Mitnichten. Der Lackmustest für die China-Strategie erfolgte drei Tage später. Am 22. März 2021 hat die Europäische Union thematische Sanktionen gegen Verantwortliche für die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in der Region Xinjiang in China verhängt. Dabei handelte es sich um die ersten solchen Massnahmen der EU gegen die Volksrepublik seit dem Tiananmen-Massaker. Noch am selben Tag übernahmen die USA, Kanada und Grossbritannien die Sanktionen, und die Übernahme durch Norwegen folgte eine Woche später. Überfordert von diesen Ereignissen, besann sich die Schweiz auf eine bewährte Strategie zurück: Sie machte nichts.
Gegen aussen wurde verkündet, dass man diese Sanktionen eingehend prüfen werden. Im Inneren war jedoch klar, dass man erstmals auf Zeit spielen wollte. Im Dezember 2022 wurde dann in einer Bundesratssitzung klammheimlich beschlossen, die Sanktionen nicht zu übernehmen. Dass die Bevölkerung von diesem Entscheid erfuhr, ist dem Öffentlichkeitsgesetz und einem hartnäckigen Journalisten der NZZ am Sonntag geschuldet. Sieht so eine selbständige und souveräne Politik gegenüber China aus, wie in der Strategie stolz verkündet? Das neue Selbstbewusstsein schien genau drei Tage währen. So wollte das EDA auch plötzlich nichts mehr von einer Evaluation der China-Strategie wissen. Die Strategie läuft Ende dieses Jahres aus. Was danach kommt, bleibt ungewiss.
Freihandelsabkommen 2.0 auf Kurs
Mit dem Besuch des chinesischen Premierministers Li Qiang im Januar 2024 und der Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung zum Abschluss einer Studie zur Weiterentwicklung des FHA Schweiz-China wurde der Grundstein für die Aufnahme möglicher Verhandlungen in Richtung FHA 2.0 gelegt. Was genau in dieser Studie steht, bleibt streng geheim und steht ausserhalb des Öffentlichkeitsgesetzes.
Klar ist aber, dass China in Sachen verbindliches Nachhaltigkeitskapitel, das auch die Menschenrechte umfasst, keine Konzessionen machen wird. Hier untergräbt die Schweiz einmal mehr geltende Standards der EFTA und der EU.
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Hier scheint sich in der Schweizer Haltung in den letzten zehn Jahren wenig geändert zu haben. Den warnenden Berichten des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte zur Situation in Xinjiang und Tibet zum Trotz. Mantramässig wiederholt der Bundesrat, dass das FHA Schweiz China über ein Zusatzabkommen und einen institutionellen Dialog über Arbeits- und Beschäftigungsfragen verfügt, über welche die Einhaltung der Arbeitsstandards und der Respekt der Menschenrechte im Zusammenhang mit Handel gegenüber China zur Sprache gebracht werden können. Leider macht stetiges Wiederholen die Sache nicht besser. Mit einem Rechtsgutachten liess Public Eye handelspolitische Sanktionsmöglichkeiten der Schweiz im Rahmen des FHA abklären. Das Gutachten bestätigte unsere Befürchtungen: Das aktuelle Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China bietet keinerlei Gewähr, dass keine Produkte aus Zwangsarbeit in die Schweiz gelangen; sie können sogar Zollvergünstigungen erhalten.
Fakultatives Referendum als Game Changer
Wiederholt sich die unsägliche Geschichte? Steht die Schweiz kurz davor, das FHA mit China weiterzuentwickeln und Zwangsarbeit, Repression und massivste Unterdrückung von Minderheiten zu ignorieren?
Im Vergleich zu 2014 sieht die Situation etwas anderes aus. So hat der Bundesrat 2019 beschlossen, dass FHA grundsätzlich einem fakultativen Referendum unterstehen können. Das FHA Schweiz-Indonesien hat hierzu 2021 mit seiner knappen Annahme einen Präzedenzfall geschaffen. Dieses Freihandelsabkommen ist das erste der 40 unterzeichneten FHA der Schweiz, das dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde.
Die Zivilgesellschaft verfügt somit über ein neues Instrument, eine Abstimmung zu erwirken und somit eine breite Debatte über das FHA und die wirtschaftliche Verflechtung mit China zu führen. Noch hat es der Bundesrat in der Hand, bei der angekündigten Modernisierung des FHA Gegensteuer zu geben und die Menschenrechte verbindlich zu verankern. Ansonsten wird wohl das Volk entscheiden.
Fight for the things that you care about, but do it in a way that will lead others to join you. (Ruth Bader Ginsburg)
Angela Mattli ist Co-Geschäftsleiterin und leitet den Fachbereich Rohstoffe, Handel und Finanzen.
Kontakt: angela.mattli@publiceye.ch
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