Spekulation mit Nahrungsmitteln verhindern: Der Bundesrat hat «kä Luscht»

Der am 20.10.2024 veröffentlichte Bericht des Bundesrats zur Spekulation mit Nahrungsmitteln ist ein peinlicher Papiertiger. Er bezieht keine einzige aktuelle Studie zu den Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten seit Beginn des Krieges in der Ukraine und den Folgen für die globale Ernährungssicherheit mit ein. Das grenzt schon fast an Arbeitsverweigerung und wird der Verantwortung der Schweiz als weltweit grösste Drehscheibe für Agrarrohstoffe nicht gerecht.

Die russische Invasion der Ukraine führte zu massiven Turbulenzen auf den Rohstoffmärkten. Gepaart mit Versorgungs- und Logistikengpässen liess dies die Kosten für Grundnahrungsmittel in die Höhe schiessen. Die Ernährungsunsicherheit verschärfte sich dramatisch. 800 Millionen Menschen litten 2022 an Hunger – über 120 Millionen mehr als noch 2019.

Wie bei den Nahrungsmittelkrisen 2007/08 und 2010 waren die Rohstoffmärkte zu Beginn des Krieges in der Ukraine von massiven Preisschwankungen geprägt. Was schlecht ist für die Bevölkerung, ist lukrativ für Spekulanten und Händler. Letztere können aufgrund ihrer zentralen Stellung im globalen Agro-Food System sowie exklusiven Marktinformationen diese Preisvolatilität zu ihrem finanziellen Vorteil nutzen.

Und so liessen die Rekordgewinne der Agrarhändler – die allesamt hierzulande angesiedelt sind – nicht lange auf sich warten. Aus ihren Büros an den Ufern des Genfersees steuern die fünf Grössten den globalen Handel mit Getreide, Soja und Kaffee und machen die Schweiz zum wichtigsten Handelsplatz für Agrarrohstoffe. Den Bundesrat müsste die Frage der Nahrungsmittelspekulation und was die hiesigen Händler damit zu tun haben also brennend interessieren.

Die grösste Rohstoffdrehscheibe schaut weg

Tut sie aber nicht. Der Bundesrat wollte sich gar nicht erst damit befassen. Ein entsprechendes Postulat empfahl er im August 2022 – praktisch auf dem Höhepunkt der Marktverwerfungen – zur Ablehnung. Man habe sich bereits bei der Initiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!» damit befasst. Der Nationalrat liess dies nicht gelten, immerhin lag die Botschaft zur Initiative da schon sieben Jahre und zwei Nahrungsmittelkrisen zurück. Und so musste der Bundesrat – widerwillig – Antworten finden.

Statt das Postulat jedoch nach aktuellem Forschungsstand zu beantworten, staubt er die alte Botschaft ab: Rohstoffbörsen gibt es in der Schweiz keine, daher kann die Schweiz auch kaum was mit Rohstoffspekulation zu tun haben. Auch die hiesigen Händler, die weltweit über massive Lagerinfrastruktur für Agrarprodukte verfügen und damit Preise beeinflussen können, entlässt er aus der Verantwortung. Die Frage, ob diese in Finanzspekulation involviert sind, wird gar nicht gestellt (Spoiler: Ja!).

Die sich selbst erfüllende Prophezeiung

Und so kommt der Bericht wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung daher, die nicht nur die Schweiz aus der Verantwortung nimmt, sondern auch gleich das Problem beseitigt: Der Bundesrat findet es nämlich wenig wahrscheinlich, «dass spekulative Geschäfte auf den Rohstoffterminmärkten eine massgebliche Rolle für die Preissteigerungen in den letzten 15 Jahren gespielt» haben. Die Mehrheit der wissenschaftlichen Studien fände kaum Belege dafür, dass Spekulation mit Nahrungsmitteln preistreibend wirke. 

Während es tatsächlich keinen wissenschaftlichen Konsens gibt, dass Spekulation preistreibend wirkt, gibt es eine Reihe von Analysen, die den Einfluss von Spekulation auf Preise bejahen. Diese klammert der Bundesrat kurzerhand aus. Und so rutschen einige relevante Erkenntnisse durch die etwas gar breiten Maschen der Verwaltungsmaschinerie.

Funktionsstörungen auf den globalen Getreidemärkten

Im Mai 2022 zum Beispiel berichtete IPES Food, ein Think Tank aus Agro-Food-Expert*innen, dass sich Umfang und Ausmass der Preisschwankungen nur teilweise durch Angebot und Nachfrage erklären liessen. Der Preisanstieg für Getreide – genauso wie der spätere Zerfall – war zum Beispiel nicht allein dem kurzzeitig fehlenden Angebot aus der Ukraine geschuldet. Die Preisschocks wurden «eindeutig durch eine Reihe von Funktionsstörungen auf den globalen Getreidemärkten, einschliesslich der Rohstoffspekulation» verschärft.

Die Zahl der Spekulanten, also jener Akteure, die nicht am physischen Handel mit Rohstoffen, sondern nur am Papierhandel und dem Profit draus interessiert sind, hatte in dieser Zeit ebenso massiv zugenommen wie die Handelstransaktionen. Im Mai 2022 mussten die Getreidebörsen in Chicago gar für fünf Tage schliessen, weil die täglichen Handelslimiten erreicht waren. Gemäss IPES-Food kann diese «exzessive Spekulation» zu grösseren Preisausschlägen gegen oben führen als Angebots- und Nachfragebedingungen allein. Bei Agrarrohstoffen schlägt sich dies unmittelbar in höheren Preisen für Lebensmittel nieder.

UNO-Pionierstudie wird ignoriert

Davon wollte der Bundesrat jedoch nichts wissen. Die Pionierstudie der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung von 2023, die vor dem Hintergrund der in die Ferne rückenden Sustainable Development Goals eine neue globale Handelsarchitektur vorschlägt, ignoriert er gleich komplett. Zu unbequem müssen wohl die Erkenntnisse gewesen sein. 

In Kapitel 3, wo es um Profite im Agro-Food-Sektor in Krisenzeiten geht, ist etwa zu lesen, dass die Gewinnentwicklungen der grössten Agrarhändler – ja, die in der Schweiz angesiedelten – und die Volatilität der Lebensmittelpreise über die letzten Jahre stets korrespondierten. Je mehr Volatilität, desto grösser die Profite.

Quelle: UNCTAD Bericht 2023

Oder, dass die Gewinne der Händler im Krisenjahr 2022 vor allem auf finanzielle Tätigkeiten – Spekulation oder andere Finanzgeschäfte – und weniger auf ihr physisches Kerngeschäft zurückzuführen waren.

Dies scheint den Bundesrat jedoch kaum zu kümmern und so findet sich in der gesamten Literatur zum Bericht keine einzige Studie, welche die Marktverwerfungen seit Beginn des Krieges in der Ukraine untersucht. Die Zeit der rekordverdächtigen Preisanstiege und -schwankungen, in der Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit litten und Rohstoffhändler gleichzeitig die «grössten Gewinne ihrer Firmengeschichte» einfuhren, wird genauso ignoriert wie die Rolle der Schweizer Agrarhändler in diesem System.

Kein Handlungsbedarf der Schweiz

Die Schlussfolgerungen des UNO-Berichts und jene des Bundesrats könnten unterschiedlicher nicht sein. Während die UNO einen «systemischen Ansatz zur Regulierung des Rohstoffhandels im Allgemeinen und des Agrarhandels im Besonderen im Rahmen der globalen Finanz- und Handelsarchitektur» vorschlägt, sieht der Bundesrat keinen Handlungsbedarf. Nicht mal zu mehr Transparenz bezüglich ihrer Lagerkapazitäten – geschweige denn ihrer Finanzgeschäfte – will er die Händler verpflichten. Wie die Rohstoffdrehscheibe Schweiz mit der aktuellen Verweigerungshaltung auf dem internationalen Parkett eine vertrauenswürdige Partnerin sein soll, ist einmal mehr komplett unklar.

«There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.» (Leonard Cohen)

Silvie Lang arbeitet seit 10 Jahren bei Public Eye. Wenn sie sich nicht gerade mit der Rolle des Schweizer Agrarhandelssektors beschäftigt, bäckt und isst sie leidenschaftlich gern Kekse.

Kontakt: silvie.lang@publiceye.ch
Twitter: @silvielang

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