Organisationsmängel: Wer haftet wofür?
Wird in der Schweiz ein Unternehmen strafrechtlich verurteilt, ist dies oft wegen Organisationsmängeln. Das liegt am zweistufigen Modell, mit dem gemäss Art. 102 StGB die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen geregelt ist:
- Die sogenannte subsidiäre Haftung gilt für alle Vergehen oder Verbrechen, die im Unternehmen begangen worden sind, aber wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden können. Primär haftet also die natürliche Person; das Unternehmen haftet nur, wenn es so schlecht organisiert ist, dass die verantwortliche Person nicht identifiziert werden kann. Dem Unternehmen wird also nicht vorgeworfen, dass im Rahmen seiner Geschäftstätigkeit eine Straftat verübt wurde, sondern dass nicht klar ist, wer für die Straftat verantwortlich ist.
- Die originäre oder parallele Unternehmensverantwortlichkeit gilt für genau bestimmte Straftaten: Unterstützung einer kriminellen Organisation, Finanzierung des Terrorismus, Geldwäscherei, Bestechung und Bestechlichkeit schweizerischer Amtsträger, Bestechung fremder Amtsträger sowie Bestechung Privater – also Straftaten, bei denen die Schweiz völkerrechtlich zur Unternehmenshaftung verpflichtet ist. Die Haftung tritt ein, wenn ein Unternehmen nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Massnahmen getroffen hat, um diese Straftaten zu verhindern. Der Vorwurf richtet sich also darauf, dass wegen des Organisationsmangels die Straftat nicht verhindert werden konnte. Das Unternehmen haftet dann unabhängig von der Strafbarkeit einer natürlichen Person: Es können sowohl die natürliche Person wie auch das Unternehmen verurteilt werden.
Zu den erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Massnahmen gehören die zivilrechtlich geregelten Sorgfaltspflichten bei der Auswahl der Angestellten sowie der Organisation und Überwachung des Betriebs. Zudem gelten weitere Pflichten wie branchenübliche Standards bzw. internationales «soft law», also nicht verbindliche Übereinkünfte oder Absichtserklärungen. Grundsätzlich muss die Unternehmensleitung die betrieblichen Gefahren und Risiken laufend analysieren und entsprechend abwehren. Das Gesetz verlangt also ganz klar einen risikobasierten Ansatz.
Wozu Unternehmen verpflichtet sind
In der Schweiz ist die Bundesanwaltschaft die Standardsetzerin, wenn es darum geht, die gesetzlichen Anforderungen an die Unternehmensorganisation zu definieren. Nehmen wir das Urteil gegen die Rohstoffhandelsfirma Gunvor als Standard, dann erwartet die Bundesanwaltschaft von Schweizer Unternehmen bezüglich der Organisation zur Verhinderung von Korruption:
- Eine Analyse des Korruptionsrisikos im Unternehmen aufgrund der (Geschäfts-)Tätigkeit, deren Kontext (insbesondere Länderrisiko und Zusammenarbeit mit politisch exponierten Personen, PEP) und der Grösse des Unternehmens;
- Antikorruptionsmassnahmen, namentlich ein adäquates Compliance-Programm;
- einen Verhaltenskodex (Tone from the Top), interne Richtlinien, insbesondere zum Umgang mit Agenten und anderen Intermediären, und Prozesse zur Korruptionsbekämpfung,
- ein internes Bewusstsein und Schulung im Kampf gegen Korruption;
- interne Kontrollen der Einhaltung der Antikorruptionsrichtlinien und -prozesse und der damit verbundenen Disziplinarverfahren;
- einen Prozess der Bewertung und kontinuierlichen Verbesserung des Antikorruptionssystems;
- sowie interne Prozesse, welche Whistleblower*innen ermutigen und schützen.
Diese Anforderungen entsprechen dem international anerkannten Mindeststandard. Dies gilt ebenso für Geldwäscherei und die weiteren Straftaten, die eine originäre Haftung zur Folge haben.
Die Unternehmensverantwortlichkeit ist in der Schweiz zwar seit 2003 eingeführt, aber sie geht nicht über das hinaus, wozu die Schweiz international im Minimum verpflichtet ist.
Geschichte der Unternehmensstrafbarkeit in der Schweiz
Im Schweizer Strafrecht war der Grundsatz societas delinquere non potest (was meint, dass juristische Personen nicht deliktsfähig sind) bis zur Jahrtausendwende allgemein anerkannt. Die Begründung folgte der Argumentation, dass juristische Personen nicht im Sinne des Strafrechts handlungsfähig seien, zumal ihnen die Schuld- bzw. Zurechnungsfähigkeit fehle, sowie sie auch nicht mit Freiheitsstrafen getroffen werden könnten. Kritiker*innen dieser Begründung entgegneten, dass die juristische Person zumindest zivilrechtlich handlungsfähig sei - warum also nicht auch strafrechtlich?
Allgemein gilt der Brand des Chemielagers in Schweizerhalle 1986 als Auslöser der Diskussion um die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen in der Schweiz. 1991 legte das Bundesamt für Justiz einen Vorentwurf einer strafrechtlichen Unternehmensverantwortlichkeit vor, wonach Unternehmen für das Verhalten ihrer rechtlichen sowie faktischen Organe oder der Geschäftsleitung einstehen sollten. Der Bundesrat gab aber die Einführung der Unternehmensstrafbarkeit nach dem Vernehmlassungsverfahren wegen des Widerstands der Wirtschaftsverbände auf. Sie hatten sich insbesondere gegen die breiten Sanktionsmöglichkeiten gestellt: Gewinnabschöpfung, Bussen bis zu 10 Mio. Franken, Weisungen, Bewährungsaufsicht, Tätigkeitsverbot und gar die Auflösung des Unternehmens.
Die Unterzeichnung der OECD-Anti-Korruptions-Konvention sowie des UN-Übereinkommens zur Bekämpfung der Terrorismus-Finanzierung brachte die strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit wieder auf die politische Agenda. Ein erster Entwurf, diesmal von den Wirtschaftsverbänden, sah noch eine rein subsidiäre Haftung vor, d.h. primär sollten weiterhin natürliche Personen haften. Jedoch war vorhersehbar, dass dieser Entwurf den besagten internationalen Standards nicht entsprechen würde. Daher arbeitete der Ständerat einen Kompromiss aus und entwickelte das zweistufige Modell: Eine subsidiäre Haftung für gemeine Straftaten und eine originäre Haftung für jene Straftaten, bei denen die Schweiz eine völkerrechtliche Verpflichtung zur konsequenten Unternehmenshaftung eingegangen ist. Der vom Parlament verabschiedete Text trat am 1. Oktober 2003 in Kraft.