«Wenn es für die einen zu gefährlich ist, dann ist es das auch für alle anderen.» Kleinbauern in Brasilien erleiden Vergiftungen durch bei uns verbotenes Pestizid von Syngenta

Als Brasilien das hochgiftige Paraquat verbot, wich die Landwirtschaft auf Diquat aus, ein Herbizid aus der gleichen chemischen Familie. Doch dieses Pestizid von Syngenta, das in der Schweiz und in der Europäischen Union verboten ist, bringt für Bauern und Bäuerinnen sowie Landarbeiter seine eigenen Probleme mit sich. Dies zeigt eine neue Untersuchung von Public Eye und Unearthed, der investigativen Einheit von Greenpeace Grossbritannien.

Als Valdemar Postanovicz nach einem Arbeitstag auf den Feldern seiner kleinen Farm plötzlich die Hälfte seines Körpers nicht mehr spürte, dachte er, er habe einen Schlaganfall erlitten. 

«Die gesamte rechte Seite meines Körpers war gelähmt. Ich konnte meinen Fuss und meine Hand nicht mehr spüren. Mein Mund war nach rechts verzogen», erinnert er sich.

In Wirklichkeit litt Postanovicz unter den Symptomen einer akuten Pestizidvergiftung. Als er 2021 sein Land in einem abgelegenen Dorf im Süden Brasiliens von Unkraut befreite, reagierte sein Körper auf Reglone, ein starkes Herbizid auf der chemischen Grundlage von Diquat. 

«Es passierte nur ein einziges Mal in meinem Leben, aber ich fühlte mich so krank, dass ich das Pestizid danach nie wieder benutzte.» Heute jätet er seine Bohnen- und Tabakfelder von Hand.

Postanovicz ist einer von immer mehr Bäuerinnen und Bauern, die im Bundesstaat Paraná, der wichtigsten landwirtschaftlichen Region Brasiliens und gleichzeitig dem grössten Nutzer des Herbizids, eine Vergiftung mit Diquat erleiden. Seitdem das berüchtigte Unkrautvernichtungsmittel Paraquat 2020 in Brasilien verboten wurde, ist der Einsatz von Diquat – einem engen chemischen Verwandten – in dem Land rapide angestiegen. Zwischen 2019 und 2022 schnellte der jährliche Diquat-Absatz in Brasilien von rund 1400 auf rund 24’000 Tonnen in die Höhe – ein Anstieg von 1600%.

Eines der beliebtesten Produkte ist Reglone, ein Unkrautvernichtungsmittel von Syngenta, das 200 Gramm Diquat pro Liter enthält und das der Basler Konzern in seinem Werk in Huddersfield in England herstellt. Die Verwendung von Diquat ist in der Schweiz ebenso verboten wie in der gesamten Europäischen Union (EU), und das aufgrund eines «hohen Risikos» für Landwirt*innen und Menschen, die in der Nähe von damit behandelten Feldern leben. Syngenta verkauft das Herbizid jedoch weiterhin in Brasilien und vielen anderen einkommensschwächeren Ländern, wo die Risiken oftmals höher sind.

Das Gesetz erlaubt dem Basler Chemieriesen sogar, das Herbizid weiterhin in Grossbritannien herzustellen und es in Länder mit weniger strengen Gesetzen zu exportieren, obwohl seine Verwendung auch auf britischem Boden verboten ist. Im vergangenen Jahr exportierte Syngenta mehr als 5000 Tonnen Diquat aus Grossbritannien, mit 2661 Tonnen ging mehr als die Hälfte davon nach Brasilien.

Der Einsatz von Diquat ist in Paraná noch stärker angestiegen als in Brasilien insgesamt; mittlerweile verzeichnet der Bundesstaat auch einen Anstieg der Vergiftungsfälle. Zwischen 2018 und 2021 wurden in Paraná jährlich nur ein bis drei Diquat-Vergiftungen gemeldet. Diese Zahl stieg 2022 auf sechs und im Jahr 2023 auf neun. Expert*innen zufolge sind diese offiziellen Zahlen wohl nur die Spitze des Eisbergs. Die allermeisten Fälle von Pestizidvergiftungen werden nicht gemeldet, sei es, weil in abgelegenen Gebieten die Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet ist, oder aus Angst vor Repressalien seitens der Arbeitgebenden.

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Marcelo de Souza Furtado von der staatlichen Gesundheitsbehörde von Paraná. Er sagt, dass die Fälle von Diquat-Vergiftungen in der Region zunehmen.

«Diese Zahlen spiegeln nur einen Bruchteil der Realität wider», sagt Marcelo de Souza Furtado von der staatlichen Gesundheitsbehörde von Paraná. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation kommen auf jede registrierte Vergiftung 50 nicht erfasste Fälle. «Die Behörden kennen das tatsächliche Ausmass des Problems der Pestizidvergiftungen in Paraná nicht», fügt er hinzu, aber «das Problem ist gross».

Marcelo de Souza Furtado bemerkte erstmals 2023, dass die Meldungen über Diquat-Vergiftungen jene über Paraquat-Vergiftungen zu ersetzen begannen. 

«Wir sind besorgt», sagt er, als er erfährt, dass auch Diquat in Europa verboten ist. «Wenn das Produkt in anderen Ländern verboten ist, zeigt das, dass es sehr giftig ist.»

Die meisten Vergiftungen stehen im Zusammenhang mit Syngentas Bestseller Reglone: Von den 36 Diquat-Vergiftungen, die das brasilianische Gesundheitsministerium zwischen 2018 und 2022 landesweit erfasste, betrafen 30 Fälle oder 83% Reglone.

«Ich wusste nicht, dass sie dieses Produkt in ihrem eigenen Land nicht einsetzen», sagt Darley Corteze, ein junger Landwirt aus Pérola d’Oeste ganz im Westen von Paraná. Corteze erlitt 2023 eine Vergiftung durch Reglone, als er auf den Sojafeldern rund um sein Elternhaus arbeitete. «Selbst verwenden sie das Produkt also nicht, produzieren es aber und schicken es zu uns nach Brasilien?», fragt er. «Dann setze ich das nur noch ein, wenn ich keine andere Option habe.»

Auf Anfrage sagt ein Syngenta-Sprecher, dass die Bedürfnisse der Landwirtschaft weltweit unterschiedlich seien und der Einsatz von Agrochemikalien auf der Beurteilung der Risiken und Vorteile durch die nationalen Regierungen der jeweiligen Länder beruhe. 

«Auf dieser Grundlage exportieren die in Grossbritannien ansässigen Produktionsstätten von Syngenta Produkte, die in Grossbritannien nicht mehr verfügbar oder notwendig sind, aber von den Landwirten und Regulierungsbehörden des Importlandes aus agronomischen und landwirtschaftlichen Gründen als notwendig erachtet werden.»

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Syngenta stellt Diquat weiterhin in seinem Werk in Huddersfield, im Norden Englands, her, obwohl seine Verwendung in Grossbritannien verboten ist.

Herbizide wie Diquat seien «wichtige Hilfsmittel» für den pfluglosen Anbau, eine Methode, die den Boden schone. Diquat werde zudem auf brasilianischen Sojafeldern auch als Trocknungsmittel vor der Ernte eingesetzt. «Diese Verwendung ermöglicht eine genaue Planung der späteren Ernten und Anpflanzungen und zwei Ernten pro Jahr auf demselben Land, was die landwirtschaftliche Produktivität erhöht und den Druck zur Rodung neuer Anbauflächen verringert.»

Syngenta sei mit allen relevanten Vorschriften bestens vertraut und halte sich bei Herstellung, Verkauf und Transport der Pflanzenschutzmittel strikt an diese Vorschriften.

Eine gefährliche Arbeit

Diquat wurde in der EU, in der Schweiz und in Grossbritannien verboten, weil es ein «hohes Risiko» für alle Menschen darstellt, die in der Nähe der Felder, auf denen es versprüht wurde, wohnen und daran vorbeigehen. Die Behörden äusserten jedoch auch Bedenken hinsichtlich der Risiken für alle, die mit dieser Chemikalie arbeiten. In einer Simulation mit traktormontierten Sprühgeräten kam die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit zu dem Schluss, dass die Exposition der Arbeiter*innen den zulässigen Höchstwert um mehr als 4000% überschreiten würde – selbst beim Tragen einer persönlichen Schutzausrüstung.

In Brasilien empfiehlt Syngenta den Personen, die Reglone verwenden, Schutzanzüge, chemikalienbeständige Stiefel und Handschuhe sowie Helm, Augenschutz und Atemschutzmaske zu tragen. 

Aber in den Kleinbetrieben sei man sich der Bedeutung der persönlichen Schutzausrüstung nicht immer bewusst, gibt Marcelo de Souza Furtado zu. Hitze und Feuchtigkeit erschweren die konsequente Verwendung zusätzlich. 

«Die Anwendung der persönlichen Schutzausrüstung verbessert sich unter den Landwirt*innen zwar, bleibt aber eine grosse kulturelle und praktische Herausforderung», sagt der Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsbehörde von Paraná. «Viele, die auf den Feldern arbeiten, benutzen sie entweder gar nicht oder tragen nur einen Teil der Ausrüstung.»

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Kleinbauern sind sich der Bedeutung von persönlicher Schutzausrüstung nicht immer bewusst. Hitze und Feuchtigkeit machen es ihnen schwer, sie regelmässig zu verwenden.

Darley Corteze gehört auch zu ihnen. Er erzählt, dass er zwar die vollständige Schutzausrüstung – einschliesslich Handschuhen und Overall – getragen, aber das Visier nicht benutzt habe.

«Man muss es jedes Mal waschen, und es behindert die Sicht, weil es aus Plastik ist», erklärt er.

Corteze sagt, dass der Schmerz, den er nach der versehentlichen Vergiftung mit Diquat verspürte, nicht normal war – etwas, das er «vorher noch nie gespürt hatte». Mehr als ein Jahr später habe er immer noch ein wenig Kopfschmerzen, wenn er die Chemikalie verwende.

Seine Eltern sind nun vorsichtig mitPestiziden. Sie wohnen immer noch in dem kleinen Haus, in dem er aufgewachsen ist, nicht weit von einem grossen Sojafeld entfernt.

«Wenn Pestizide versprüht werden, muss man sich einschliessen, die Ritzen unter den Türen verstopfen, die Fenster schliessen … damit die vergiftete Luft nicht eindringt», berichtet seine Mutter Joselaine. «Der Geruch steigt einem direkt in den Kopf, die Kopfschmerzen beginnen, dir wird übel.»

Manchmal schützt die Schutzausrüstung nicht ausreichend, berichten Landarbeiter. Als Fábio Souza im April 2023 die Sojafelder seines Chefs mit Reglone besprühte, trug er nach eigenen Angaben ein Gesichtsvisier, um sich zu schützen.

«Aber die Flüssigkeit trat von unten ein und gelangte in mein Auge», erzählt er.

Souza spürt immer noch Nachwirkungen seiner Verletzung, darunter ein brennendes Gefühl an sonnigen Tagen. Souzas Name wurde geändert, um seine Identität zu schützen. Er befürchtet Vergeltungsmassnahmen seitens seines Arbeitgebers, weil er mit den Medien gesprochen hat.

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Der Bundesstaat Paraná ist die wichtigste landwirtschaftliche Region Brasiliens und grösster Nutzer von Diquat.

«Meine Sehkraft wurde dadurch beeinträchtigt, manchmal sehe ich verschwommen», sagt er. «Wir haben nur ein Paar Augen. Wenn wir nicht mehr sehen können, ist alles weg, es wird dunkel, die Welt verschwindet.»

Er verwendet Reglone noch immer, sprüht aber aus Angst vor einer Verbreitung des Mittels über das behandelte Areal hinaus nur, wenn seine Kinder in der Schule sind. Sein Haus liegt 100 Meter von den Feldern entfernt. 

«Seit dem Unfall bin ich bei der Verwendung der Pestizide noch vorsichtiger geworden. Es macht mir richtig Angst, sie zu benutzen. Es ist gefährlich», sagt er.

Bauernfamilien, die kleine Flächen bewirtschaften und Pestizide von Hand versprühen, sind besonders gefährdet.

 «Das grösste Risiko einer Vergiftung besteht für die Person, die das Pestizid ausbringt», erklärt Renato Rezende Young Blood, Direktor der Agentur zum Schutz der Landwirtschaft in Paraná (Adapar). «Das ist wahrscheinlich der Grund für die Vergiftungen bei Kulturen, die eher in der Familienlandwirtschaft üblich sind, wo einfache Spritzgeräte verwendet werden.»

Postanovicz ist ein solcher Kleinbauer: Er lebt in einem bescheidenen Haus mit drei Zimmern in einer abgelegenen, von Kleinbetrieben geprägten Gegend. Der Landwirt baut genug Obst und Bohnen für seinen Eigenbedarf an und verkauft ein paar Tabakpflanzen, um seine Rechnungen zu bezahlen. Er arbeitet allein auf seinem 35 Hektar grossen Grundstück und verwendete für die Anwendung von Reglone eine Rückenspritze.

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Postanovicz lebt in einem bescheidenen Drei-Zimmer-Haus in einer abgelegenen Region. Kleine Bauernhöfe wie der seine sind dort am meisten verbreitet.

«Reglone ist ein äusserst starkes Produkt; wenn es mit der Tabakpflanze in Kontakt kommt, tötet es sie sofort», sagt er. Wie Darley Corteze trug er eine Schutzhose, Stiefel und Handschuhe, aber kein Visier. «Beim Atmen beschlägt das ganze Plastik. Das ist gefährlich: Du kannst stolpern, fallen und dich verletzen.»

Laut Postanovicz zeigten sich die ersten Symptome, nachdem er mit der Arbeit fertig war und geduscht hatte. Er sah verschwommen, sein rechtes Bein und sein rechter Arm wurden taub und seine rechte Hand zitterte. Heute noch löst der Geruch von Reglone bei ihm eine heftige Reaktion aus. 

«Ich hasse es. Ich rieche es sogar, wenn es jemand weit weg von hier versprüht, es ist schrecklich.»

Das Gift immer in Reichweite

Die berufsbedingte Exposition ist nicht die einzige Gefahr für Menschen, die mit gefährlichen Pestiziden arbeiten müssen. Allein die Verfügbarkeit und leichte Zugänglichkeit von giftigen Produkten in landwirtschaftlichen Regionen birgt Risiken. In den neun Jahren vor dem Paraquat-Verbot, zwischen 2010 und 2019, starben in Brasilien 138 Menschen im Land durch die Einnahme des Unkrautvernichters, wie eine Analyse der Bundesuniversität von Ceará ergab. Davon wurden 129 Fälle als Selbstmord eingestuft.

Paraquat ist bereits in sehr geringen Mengen tödlich – ein einziger Schluck des Unkrautvernichters kann tödlich sein, und es gibt kein Gegenmittel. Dies macht es extrem gefährlich.

Jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass mit dem Ersatz von Paraquat durch Diquat auch Letzteres bei Suizidversuchen eingesetzt wird. Zwischen 2018 und 2022 wurden in Brasilien landesweit offiziell 36 Fälle von Diquat-Vergiftungen registriert. Fast die Hälfte davon, nämlich 17, waren Suizidversuche, von denen 4 tödlich verliefen. Die landesweiten Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor.

In Paraná haben wir auch mit der Familie von Luiz Patalo gesprochen, einem Kleinbauern aus Prudentópolis, der im Februar 2019 an einer Diquat-Vergiftung starb.

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Elza Patalo: «Um 18 Uhr kam er in die Küche und sagte mir, er habe Reglone getrunken.»

«Um 18 Uhr kam er in die Küche und sagte mir, er habe Reglone getrunken», erzählt Patalos Mutter Elza mit Tränen in den Augen. «Am nächsten Morgen war er tot.»

 «Er hatte einen Herzstillstand und konnte nicht gerettet werden», fügt seine Schwester Luciana hinzu. «Die Ärzt*innen haben ihr Möglichstes getan, aber die Wirkung des Pestizids war einfach zu stark.»

Laut Elza zeigte ihr Sohn keine Anzeichen von Depressionen. Er war ein fröhlicher Mann, er hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und verstand sich mit allen gut.

«Wir hätten das nie erwartet», fährt sie fort. «Aber als er an diesem Abend nach Hause kam, hatte er sich mit einem Nachbarn gestritten, der auf einem Dorffest getrunken hatte, schliesslich wurde die Auseinandersetzung gewalttätig. Er war wirklich aufgebracht.» Seine Familie sagt, er habe wohl im Impuls gehandelt. Das Diquat wurde in einem kleinen, mit Schlüssel abgeschlossenen Schrank im Garten hinter dem Haus aufbewahrt. 

«Ich denke, wenn er keinen Zugang zu dem Pestizid gehabt hätte, wäre heute vielleicht alles anders, denn es war leicht für ihn, an das Pestizid zu kommen und es zu trinken», sagt Luciana.

Laut Michael Eddleston, Professor für klinische Toxikologie und Experte für Pestizidvergiftungen an der Universität Edinburgh, sind solche Fälle nicht unge- wöhnlich: Menschen, die Pestizide schlucken, würden oft aus einem flüchtigen Impuls heraus handeln, der wenig mit einem tiefen Wunsch, zu sterben, zu tun habe. Das Trinken einer Flüssigkeit scheine einfacher und weniger brutal zu sein als andere Methoden des Suizids. Aber Produkte mit einer solch hohen Toxizität wie Paraquat und Diquat würden keine impulsiven Handlungen verzeihen.

«Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Menschen, die Pestizide schlucken, sich das Leben nehmen wollen», sagt Eddleston. «Das tun sie nicht immer. Sie vergiften sich, um sich mitzuteilen. (Ist eine Person wütend oder gestresst, sieht sie darin vielleicht den einzigen Weg, ihren Mitmenschen mitzuteilen, wie sehr sie durch eine Situation verletzt ist.) Und sie tut es mit dem, was gerade zur Verfügung steht. 

Würden diese Chemikalien nicht bei den Leuten zu Hause stehen, würden die Menschen nicht sterben.»

Aus diesem Grund könne laut Eddleston die Zahl der Todesfälle drastisch zurückgehen, wenn hochgiftige Pestizide durch ungiftige oder weniger giftige Alternativen ersetzt werden. Sri Lanka beispielsweise war Anfang der 1990er-Jahre für eine der höchsten Suizidraten der Welt berüchtigt. Doch Einschränkungen und Bestimmungen für Pestizide haben zu einem Rückgang der Suizidraten um mehr als 70% seit 1995 beigetragen. 

Eine Werbung aus dem Jahr 1986: «Im unwahrscheinlichen Fall einer Einnahme wird das Emetikum von GRAMOXONE SUPER Erbrechen verursachen.»

In China sind die durch Pestizide verursachten Suizide nach einem Verbot bestimmter hochgiftiger Substanzen zwischen 2006 und 2018 deutlich zurückgegangen. Würden diese Chemikalien nicht bei den Leuten zu Hause stehen, würden die Menschen nicht sterben.»

Auch Fernanda Characovskis Suizidversuch mit Reglone und einer anderen Agrochemikalie im Jahr 2020 war ungeplant. Characovski war vor Kurzem mit ihrem Lebensgefährten umgezogen, um auf dem Bauernhof seiner Familie zu arbeiten. Die Arbeit war anstrengend und sie fühlte sich isoliert; Nachbar*innen gab es nicht und sie verstand sich nicht immer gut mit der Familie ihres Partners.

Sie nahm das Pestizid «nach einem üblen Streit» mit ihrem damaligen Partner zu sich. Es sei «ein Impuls» gewesen, sagt sie.

«Es war ein Moment der Wut, eine Verzweiflungstat, und ich wollte mich rächen. Ich glaube, ich war psychisch schon sehr angeschlagen, auch aufgrund einer leichten Depression.»

Characovski verbrachte zwei Wochen im Spital, davon mehrere Tage auf der Intensivstation. Die Vergiftung hat bleibende Spuren hinterlassen: Sie kann be- stimmte Lebensmittel nicht mehr essen. «Mein Magen wurde durch das Pestizid verätzt», sagt sie. Sie spricht sehr offen über ihren Suizidversuch und sagt, dass die leichte Zugänglichkeit des Produkts ein entscheidender Faktor war.

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Tödliche Pestizide wie Reglone werden oft in einem kleinen Schrank im Garten hinter den Häusern der Kleinbauern aufbewahrt.

«Ich denke, wenn man innerlich brodelt, handelt man, ohne nachzudenken, und wenn man depressiv ist, tut man es, ohne dabei etwas zu fühlen», sagt sie. «Wenn ich keinen Zugang zu dem Pestizidschrank gehabt hätte, hätte ich nicht versucht, mich umzubringen. Ich hätte nicht den Mut dazu gehabt.»

Brasilien ist nicht das einzige Land, in dem die tödlichen Vergiftungen mit Diquat zugenommen haben. Seit China Paraquat im Jahr 2016 verboten hat, wird Diquat weitverbreitet als Ersatz verwendet. Ärzt*innen haben seither Hunderte von Fällen tödlicher Selbstvergiftungen mit Diquat gemeldet, wobei Studien Sterblichkeitsraten zwischen 17% und 60% ergeben. Eddleston weist darauf hin, dass Syngenta und andere Hersteller das Herbizid als flüssiges Produkt mit 20% Diquat verkaufen, so wie sie es auch mit Paraquat getan haben. Diese Produkte, so Eddleston, reproduzieren «die gefährlichsten Eigenschaften von Paraquat». Sie können ebenso leicht geschluckt werden und auch für sie gibt es kein Gegengift.

Bisher sind weder in Brasilien noch in China annähernd so viele Menschen an einer Diquat-Vergiftung gestorben wie zuvor an Paraquat. Eddleston ist sich jedoch sicher, dass die Flüssigprodukte mit 20% Diquat-Anteil in den Händen von Kleinbäuerinnen und -bauern viel zu gefährlich sind.

«Schon einkleiner Schluck von diesem Zeug ist tödlich. Und den kann man auch aus Versehen einnehmen», fügt er hinzu.

Das neue Paraquat

Als weltweit grösster Produzent von Soja, Zuckerrohr, Kaffee und Orangen ist Brasilien einer der grössten Pestizidverbraucher weltweit, und der Einsatz von Agrochemikalien nimmt Jahr für Jahr zu. Doch die Karriere von Diquat ist aussergewöhnlich: Das Herbizid wurde von einem Nischenprodukt zu einem der am weitesten verbreiteten Unkrautvernichtungsmittel. Während der Gesamtverbrauch von Pestiziden in Brasilien von 2019 bis 2022 bloss um 30% zulegte, stieg er bei Diquat um 1600%.

Der Auslöser dafür war das Verbot von Paraquat, das laut der brasilianischen Gesundheitsbehörde Anvisa aus vier Gründen ausgesprochen wurde: die Schwere der berufsbedingten und versehentlichen Vergiftungsfälle, die Überschreitung der sicheren Grenzwerte bei der Exposition der Arbeiter*innen gegenüber Paraquat, selbst bei Verwendung einer Schutzausrüstung, das erbgutverändernde Potenzial der Chemikalie sowie die Studien, die einen Zusammenhang zwischen Paraquat und der Parkinsonkrankheit aufzeigen.

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Brasilien ist einer der grössten Pestizidverbraucher der Welt und der Einsatz von Agrochemikalien steigt jedes Jahr.

Nun stellt sich zunehmend die Frage, weshalb das mit Paraquat eng verwandte und in Europa bereits verbotene Diquat, dessen Einsatz in Brasilien exponentiell zunimmt, im südamerikanischen Land noch immer zugelassen ist.

«Es handelt sich bei Paraquat und Diquat praktisch um dasselbe Molekül», sagt Marcos Andersen, ein Agronom, der bei der Gesundheitsbehörde des Bundesstaates Paraná arbeitet. «Sie wirken auf die gleiche Weise, und Diquat müsste ebenfalls verboten sein.»

2024 nahmen die Gesundheitsbehörden von Paraná Diquat erstmals in ihre jährlichen Untersuchungen von Lebensmitteln auf Pestizidrückstände auf. «Wir sind über die zunehmende Verwendung dieser Substanz besorgt», ergänzt Andersen.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die brasilianischen Behörden die Verwendung von Diquat in absehbarer Zeit einschränken werden.

«Die Anvisa ist daran, die Situation zu überprüfen, und wird in einem internen Prozess eruieren, welches Pestizid am problematischsten ist, aber dieser Prozess steht erst ganz am Anfang», sagt Gamini Manueera, ein Experte an der Universität Edinburgh, der früher die Regulierungsbehörde für Pestizide in Sri Lanka leitete.

2023 hat Brasilien ein Gesetzespaket verabschiedet, das der agrochemischen Industrie sehr entgegenkommt, Zulassungsverfahren für Pestizide vereinfacht und die Rolle der Gesundheits- und Umweltbehörden bei der Regulierung schwächt.

«Die Gesetzgebung ist ein wenig schwächer und lascher geworden, wenn es um die Zulassung von Pestiziden geht», sagt Marcelo de Souza Furtado von der staatlichen Gesundheitsbehörde von Paraná. «Es wurden viele neue Pestizide auf den Markt gebracht, und bei vielen wissen wir noch gar nicht, ob und in welchem Ausmass sie für die menschliche Gesundheit schädlich sind.»

Andere sehen durch diese Schwächung der Gesetzgebung eine noch grössere Verantwortung bei den Ländern und Unternehmen des globalen Nordens, verbotene Pestizide wie Diquat nicht länger zu exportieren.

«Brasilien hat mit tatkräftiger Unterstützung der Agrochemieunternehmen ein neues Pestizidgesetz verabschiedet, das die Zulassung und Verwendung von Pestiziden noch flexibler gestaltet», so Alan Tygel, Sprecher der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte. «Vor diesem Hintergrund müssen die europäischen Länder, die in ihrem eigenen Land verbotene Pestizide herstellen und nach Brasilien exportieren, Verantwortung übernehmen und aufhören, uns Produkte zu schicken, die für ihre eigene Bevölkerung zu gefährlich sind.»

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«Es wurden viele neue Pestizide auf den Markt gebracht, und bei vielen wissen wir noch gar nicht, ob und in welchem Ausmass sie für die menschliche Gesundheit schädlich sind.»

Syngenta entgegnet darauf, jedes Land habe das Recht, selbst zu entscheiden, welche Pestizide auf seinen Landwirtschaftsbetrieben benötigt würden. «Beim Export von Produkten aus Grossbritannien respektiert Syngenta die Souveränität und die Richtlinien des Importlandes, erfüllt alle internationalen regulatorischen Anforderungen […] und stellt vor Ort detaillierte Informationen zur Verfügung, um eine sichere Anwendung zu fördern», so der Unternehmenssprecher.

Das Unternehmen stelle Pestizide nur an wenigen Orten der Welt her, um sicherzustellen, dass die Bestandteile «von höchster Qualität» seien. Wer den Zugang zu hochwertigen, zugelassenen Produkten blockiere, fördere den Markt für gefälschte und illegale Produkte – von denen viele von kriminellen Organisationen unter Verwendung schädlicher und nicht regulierter Inhaltsstoffe hergestellt würden, wodurch Landwirt*innen einem noch grösseren Risiko ausgesetzt würden.

«Syngenta schult jedes Jahr Hunderttausende von Menschen im sicheren Umgang mit unseren Produkten», fügt der Sprecher hinzu. «Dieses Jahr wollen wir allein in Brasilien mehr als 55‘000 Menschen schulen.»

Für Marcos Orellana, UN-Sonderberichterstatter für Giftstoffe und Menschenrechte, zeigt die Tatsache, dass Syngenta – trotz des weitverbreiteten Wissens, dass dies zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen führt – in diesen Ländern anderswo verbotene Pestizide verkauft, die engen Grenzen freiwilliger Leitprinzipien für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln auf. Der UN-Vertreter sieht im Export von verbotenen Pestiziden in die Länder des Südens eine Form der «modernen Ausbeutung».

«Für die Länder, die verbotene Pestizide produzieren und exportieren, scheint die Gesundheit der Menschen in den Empfängerländern nicht so wichtig zu sein wie die ihrer eigenen Bevölkerung», beklagt er.

Diese Ansicht teilen viele der Bäuerinnen und Landarbeiter in Paraná, mit denen Public Eye und Unearthed gesprochen haben.

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«Ich halte es für unmoralisch, ein Pestizid in einem Land zu verbieten, um es anschliessend zu uns zu schicken», sagt Luciana Patalo, die ihren Bruder Luiz durch eine Diquat-Vergiftung verloren hat. «Wenn das Produkt für die einen zu gefährlich ist, dann ist es das auch für alle anderen.»

Paraquat Papers Wie Syngenta den Profit über die Produktsicherheit gestellt und dadurch Tausende von Toten toleriert hat