Die «Mission Impossible» der WHO Der ideale Sündenbock
Patrick Durisch, 15. Juni 2020
Als Donald Trump mitten in der Krise ankündigte, dass die Vereinigten Staaten ihre Beitragszahlungen an die WHO aussetzen würden, war die allgemeine Verblüffung so gross wie die Empörung, der sie dann wich. Trumps Entscheid sei schlicht «ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit», sagte Richard Horton, Chefredaktor der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet.
Trump begründete seinen Entscheid damit, die WHO sei «eine Marionette Chinas» und habe es «vermasselt», frühzeitig Alarm zu schlagen. Tatsächlich hatte die WHO ab Anfang Januar eine Epidemie mit einem neuen Virus in China gemeldet und am 30. Januar eine «gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite» ausgerufen – die höchste Alarmstufe gemäss der Internationalen Gesundheitsvorschriften, die 2005 von den 194 WHO-Mitgliedstaaten verabschiedet wurden. Dank des WHO-Austauschsystems konnten Informationen zu den Eigenschaften des Virus rasch global geteilt und sein genetisches Profil in Rekordzeit identifiziert werden. Selbst wenn es vonseiten der WHO eine zu grosse Nachsicht gegenüber China gegeben haben sollte, erklärt sich damit nicht, wieso es in so vielen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten derart lange ging, bis endlich entschiedene Massnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergriffen wurden. Allzu lange glaubten diese Staaten einfach, die Bedrohung würde dann schon nicht bis zu ihnen kommen.
Donald Trump hat in der WHO den idealen Sündenbock gefunden. Erstens, um von seinem katastrophalen Umgang mit der Krise im eigenen Land abzulenken. Zweitens, um medienwirksam den Konflikt mit China anzuheizen, und drittens, um auf dem multilateralen System herumtrumpeln zu können, gegen das er bekanntermassen höchst allergisch ist.
Ambivalente Schweiz
Schliesslich eignet sich die WHO auch deshalb als Sündenbock, weil sie sich kaum wehren kann. Sie hat dazu schlicht nicht die politischen Mittel. Die WHO wird von ihren 194 Mitgliedstaaten geleitet, die je über eine Stimme verfügen und im Konsens abstimmen. Sie haben sich nie dazu durchgerungen, der WHO die politische Macht zu übertragen, die nötig wäre, um bei grösseren Gesundheitskrisen das Vorgehen diktieren oder Staaten sanktionieren zu können, die ihre Anweisungen nicht befolgen. Antoine Flahault, Direktor des Institute of Global Health an der Universität Genf, sagte im April gegenüber Swissinfo:
Es ist offensichtlich, dass die Staaten den Stab nicht der Institution anvertrauen wollten, «die in dieser Pandemie zum Dirigenten hätte werden können».
Die Schweiz strich zwar nach Trumps Ankündigung die «Schlüsselrolle der WHO in dieser Pandemie» hervor, doch auch sie nimmt eine ambivalente Position ein. Die Schweiz, die 2018 insgesamt gerade einmal knapp 14 Millionen US-Dollar zur Finanzierung der WHO beigesteuert hat, wollte der UN-Organisation nie mehr als eine rein normative und technische Rolle zugestehen. Doch Gesundheit ist eine eminent politische Angelegenheit, wie der Umgang mit der Covid-19-Krise zeigt: Nationalen Partikulärinteressen wird konsequent Vorrang gegeben vor internationaler Zusammenarbeit oder Solidarität. Einmal mehr wird deutlich: Die WHO wird als nützliche und notwendige Organisation angesehen, wenn es darum geht, Entwicklungsländer mit schwachen Gesundheitssystemen zu unterstützen. Sobald sie jedoch die Defizite in der Gesundheitsversorgung wohlhabenderer Länder und den industriellen Protektionismus insbesondere in Bezug auf Arzneimittel anprangert, wird sie zum Ärgernis.
Eine unmögliche Mission
Die WHO ist auch finanziell auf ihre Mitgliedstaaten angewiesen, um überhaupt eine Rolle im Bereich der globalen Gesundheit wahrnehmen zu können. Um die Kontrolle über die politischen Prioritäten behalten zu können, bevorzugen die Staaten jedoch freiwillige Zahlungen an Fonds, die an spezifische Programme gebunden sind. Diese machen heute fast 80 Prozent des Gesamtbudgets aus – viel mehr also als die aufgrund des jeweiligen Bruttoinlandprodukts festgelegten «Fixbeiträge», die für die WHO frei verfügbar sind und ihr mehr Flexibilität geben, ihre Mittel gemäss dem aktuellen Bedarf einzusetzen. Und insgesamt entspricht das Jahresbudget, mit dem die WHO ihr globales Mandat wahrnehmen sollte, weniger als drei Milliarden Dollar – was etwa dem Budget des Genfer Universitätsspitals entspricht. Eine klassische «Mission impossible».
Da die Staaten knausern, sucht die WHO nach anderen Finanzierungsquellen – wie privaten Stiftungen. Mit 229 Millionen Dollar im Jahr 2018 – fast 10 Prozent des Gesamtbudgets – ist die Bill & Melinda Gates Foundation zur zweitgrössten Geldgeberin der WHO nach den Vereinigten Staaten (insgesamt 340 Millionen Dollar) geworden, was ihr die Möglichkeit verschafft, gewisse Prioritäten in der Gesundheitspolitik mitzusteuern. Die Generosität des aktuell zweitreichsten Mannes der Welt wäre etwas weniger problematisch, wenn einerseits dessen Mittel frei verfügbar gemacht würden und vor allem, wenn die Staaten ihre eigenen festen Beiträge erhöhen würden.
Public Eye und andere NGOs haben den wachsenden Einfluss der Bill & Melinda Gates Foundation – der nun in der Krise der Nährboden für weltweit wild ins Kraut schiessende Verschwörungstheorien darstellt – regelmässig kritisiert.
Weite Teile der Zivilgesellschaft wünschen sich eine starke und unabhängige WHO, die in der internationalen Gesundheitspolitik tatsächlich eine Führungsrolle einnimmt – im Einklang mit ihrer Verfassung von 1948.
Die Verfassung spricht ihr dafür nicht nur die Legitimität zu, sondern gibt eigentlich auch die nötigen rechtlichen Mittel. Und sie sorgen sich, dass die Partizipationsmöglichkeiten etwa von NGOs in den entscheidenden WHO-Gremien unter der Prämisse höherer Effizienz immer kleiner werden.
Die WHO ist also mitnichten perfekt. Und es wird wie nach jeder Gesundheitskrise auch nach dem Abflachen der Corona-Pandemie entscheidend sein, erkannte Fehlfunktionen zu korrigieren. Aber die WHO wird weder einseitig von China (25 Millionen Dollar Beitragszahlungen 2018) noch von den Vereinigten Staaten oder Deutschland (170 Millionen Dollar 2018) gesteuert, sondern von allen gemeinsam. Und sie ist nach wie vor die einzige Organisation, die Gesundheitspolitik über die engen Grenzen einzelner Länder hinaus gestalten kann.
Aber offensichtlich ist es für viele einfacher, auf den Krankenwagen zu schiessen, statt ihm die Strasse freizuhalten.
Dieser Text erschien im Public Eye Magazin Nr. 24., Juni 2020. Bestellen Sie kostenlos diese Ausgabe oder werden Sie Mitglied und erhalten Sie unser Magazin 5x jährlich.