Argentinien
1. Dezember 2013
Nach Brasilien und Mexiko besetzt Argentinien den dritten Rang unter den beliebtesten Ländern Lateinamerikas für Medikamententests. In der Tat bietet Argentinien zahlreiche Vorteile für Pharmafirmen: Gut ausgebildetes Pflegefachpersonal sowie eine ethnisch vielfältige Bevölkerung, die - genetisch gesehen - nahe bei der westeuropäischen und nordamerikanischen Bevölkerung liegt, zahlreiche Krankenhäuser sowie tiefere Kosten als in anderen Ländern. Zudem ist es in Argentinien einfach, Testpersonen für klinische Versuche anzuwerben, weil das in den 1990ern etablierte Gesundheitssystem für viele Bevölkerungsschichten den Zugang zu gewissen Behandlungen unmöglich macht. Somit ist es ein Leichtes für Ärztinnen und Ärzte, Patienten zu überzeugen, an einem „Versuch“ teilzunehmen.
Auch wenn die Betreuung bei klinischen Versuchen in Argentinien von Forschenden als „eher gut“ bezeichnet wird, weist sie doch grosse Lücken auf: So zum fehlen zum Beispiel Gesetze auf nationaler Ebene; es gibt private Ethik-Kommissionen, deren Unabhängigkeit fragwürdig ist, oder aber die Arzneimittelbehörde (ANMAT), welche nicht wirklich die Einhaltung Ethik-Normen überwacht.
Ethik-Kommissionen: Intransparenz und Interessenkonflikte
Angesichts der rechtlichen Lücken und den Defiziten der Arzneimittelbehörde wurden zwei private Institutionen als „unabhängige Ethik-Kommissionen“ ins Leben gerufen. Sie sind die einzigen für den Schutz der Versuchspersonen Verantwortlichen in Argentinien. Diese Kommissionen werden jedoch von Fachleuten beschuldigt, weder unabhängig noch glaubwürdig zu sein. So wurde bei einer Analyse von 36 Protokollen klinischer Versuche, die zwischen 2005 und 2006 durchgeführt wurden, bei 85% fast 100 Verstösse gegen die geltenden Normen festgestellt. Diese beiden Kommissionen genehmigen 80% der in Argentinien durchgeführten klinischen Versuche. Die „Fundación de Estudios Farmacológicos y de Medicamentos (FEFyM)“, von Dr. Zieher geleitet, prüft 85% der Protokolle der durch Roche und Novartis in Argentinien durchgeführten klinischen Versuche. Zwei Versuche, die Roche und Merck durchgeführt haben, und die sich durch unsere Recherchen als mangelhaft erwiesen, wurden inzwischen von der FEFyM nochmals überprüft.
Schizophrene Jugendliche: Behandlung verwehrt
Auch wenn das Vergleichen eines Medikaments mit einem Placebo eindeutigere Ergebnisse ermöglicht, ist das Verabreichen einer "Zuckerpille“ an Patientinnen und Patienten, die eine Behandlung benötigen, nicht nur gefährlich, sondern aus ethischer Sicht auch inakzeptabel. Genau das hat jedoch die US-amerikanische Firma Merck gemacht, im Rahmen einer ab 2010 durchgeführten Studie, auch in Argentinien. Die Studie befasste sich mit der Wirkung des Medikaments Saphris (Asenapin) auf an Schizophrenie leidenden Jugendlichen.
Obwohl die Studie von der ANMAT genehmigt wurde, setzte dieser Versuch die Testpersonen grosser Gefahr aus, da ihre bisherige Behandlung mit Psychopharmaka unterbrochen wurde, um ihnen stattdessen Asenapin oder ein Placebo zu verabreichen. Aufgrund eines anonymen Hinweises wurde die Studie schliesslich von der ANMAT suspendiert. Trotz der gravierenden Sachlage wurde kein Rechtsverfahren eröffnet; es wurde auch nicht in den Medien darüber berichtet. Public Eye ist somit die erste Organisation, die diesen Skandal publik macht.
Eine nicht zugelassene Behandlungsmethode als Standard
2008 hat Roche ein Immunsuppressivum (Ocrelizumab) zur Behandlung von Lupus Nephritis (einer Autoimmunerkrankung, die zu Nierenproblemen führt) getestet. In mehreren Ländern durchgeführt, unter anderem auch in Argentinien, wurde dieser Versuch zu guter Letzt suspendiert, weil das Medikament schwerwiegende Nebenwirkungen verursachte. Das war jedoch nicht das grösste Problem. Gemäss Einwilligungsformular wurde den Patientinnen zusätzlich zu Ocrelizumab oder einem Placebo eine sogenannte «Standard» Behandlung verschrieben, die CellCept beinhaltete.
CellCept ist ein Immunsuppressivum, das verwendet wird, um nach Transplantationen das Abstossen der transplantierten Organe zu verhindern. Auch wenn Ärzte dieses Medikament zur Behandlung von Lupus verschreiben, so ist CellCept für die Behandlung dieser Krankheit nicht offiziell zugelassen. Es ist schlicht falsch, diese Behandlung als «Standard»-zu bezeichnen. Nach Abschluss der Tests hatten die Patientinnen und Patienten so auch gar keine Chance mehr, Cellcept zu erhalten, selbst wenn sich das Medikament als wirksam erwiesen hatte. Genau dies geschah Maria, einer Patientin, die uns ihre Geschichte erzählt hat.
GlaxoSmithKline der ethischen Verstösse für schuldig befunden
Den Entscheidungen der Ethik-Kommissionen in Argentinien fehlt es an jeglicher Transparenz. Es besteht kein öffentliches nationales Register – auch nicht für Fachleute. Genehmigt eine Kommission ein Protokoll nicht, so kann sich das pharmazeutische Unternehmen ganz einfach an eine anderen Institution wenden, bis eine Kommission mit weniger Skrupeln das Protokoll schliesslich genehmigt. Dies geschah im Falle von COMPAS, einer breit angelegten Studie zum Pneumokokken-Impfstoff Synflorix, welche die britische GlaxoSmithKline (GSK) durchführte.
Synflorix ist ein Impfstoff gegen Lungenentzündungen, Mittelohrentzündungen und Meningitis. Zwischen 2007 und 2011 wurde dieser Impfstoff an 14'000 Neugeborenen getestet, und zwar in den drei ärmsten Provinzen des Landes. Die Medien berichteten über diesen Skandal, weil vierzehn Säuglinge im Verlauf der Studie verstarben, was schliesslich zur Eröffnung einer offiziellen Strafuntersuchung führte. Selbst wenn im Verlauf dieser Untersuchung der Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und den Sterbefällen nicht belegt werden konnte, entdeckten Journalistinnen und Gesundheitsfachleute bedeutende Unregelmässigkeiten, die dann im Rahmen einer weiterführenden Untersuchung der ANMAT bestätigt wurden. Erstmals verurteilten daraufhin die argentinischen Behörden eine multinationale Gruppe zu Bussgeldern wegen Verstössen gegen Ethik-Richtlinien bei Medikamententests.
Zu den Vorwürfen gehörte auch, dass Säuglinge mit Atemwegsinfektionen oder mit HIV zur Studie zugelassen wurden. Unregelmässigkeiten beim Einholen der Einwilligungen der Eltern wurden von denselben gemeldet. So erzählte die Mutter eines verstorbenen Kindes einem Journalisten des Magazins El Guardian, man habe ihr gesagt, die Impfung würde bald obligatorisch und dann 300 Pesos kosten. Der Arzt fragte sie: „Hast du die 300 Pesos, um sie zu bezahlen?“, und weil ihr das Geld fehlte, habe sie das Einwilligungsformular unterschrieben. Einer anderen Mutter drohte das medizinische Personal, ihr das Kind wegzunehmen, wenn sie ihm eine zweite Impfung verweigern würde. Andere Eltern haben ihre Einwilligung gegeben, damit ihre Neugeborenen bessere medizinische Pflege erhalten. Dem Vater eines Säuglings wurde erklärt: „Wenn Du hierher kommst, wirst Du empfangen. Sonst musst Du um vier Uhr morgens antanzen, und wirst wie eine Ratte behandelt.“
Die Ärztinnen und Ärtze hatten ein bedeutendes finanzielles Interesse, die Studie auszubauen. GSK zahlte allen Forschenden für jeden für diesen Test angeworbenen Säugling 350 Dollar – viel Geld für Ärzte, deren Monatslöhne sich zwischen 1'200 und 1'400 Dollar bewegen.
Beunruhigend ist, dass der Hauptkoordinator dieser Studie sowie eine lokale Verantwortliche, die beide vor Gericht in diesem Fall für schuldig befunden wurden, an ähnlichen, gleichzeitig durchgeführten Versuchen für Novartis gearbeitet hatten. Dazu befragt wies der Basler Pharmariese jeglichen Verdacht von sich. Der medizinische Direktor der argentinischen Novartis-Tochter erklärte sogar, eine dieser für schuldig befundenen Personen später wieder eingestellt zu haben.
Diese Recherche wurde von Public Eye nicht weiterverfolgt oder aktualisiert. Die Ergebnisse, wie sie auf dieser Website erscheinen, sind die Ergebnisse unserer Forschung im Jahr 2013.
Public Eye Report: Clinical Drug Trials in Argentina - Pharmaceutical Companies Exploit Flaws in The Regulatory System (in Englisch, 2013)