Public Eye verschreibt «Berseticum forte» gegen unethische Medikamentenversuche

Unsere Recherchen haben gezeigt, dass klinische Versuche von Pharmakonzernen wie Roche und Novartis in einkommensärmeren Ländern häufig gegen ethische Minimalstandards verstossen. 2013 forderte die Erklärung von Bern (EvB), heute Public Eye, vom damaligen Gesundheitsminister Alain Berset konkrete Massnahmen zur schnellen Verbesserung dieses Missstands. Mit der Kampagne «Berseticum Forte» haben wir auf die Intransparenz bei klinischen Versuchen sowie auf fehlende Regulierungen und Kontrollen durch die Arzneimittelbehörde Swissmedic hingewiesen. Diese Mängel wurden 2016 auch im Rahmen einer von Public Eye und Partnerorganisationen veranstalteten internationalen Konferenz diskutiert.

Medikamentenversuche am Menschen sind der wichtigste, heikelste und zugleich teuerste Teil der pharmazeutischen Forschung und Produktentwicklung; sie werden deshalb in regulationsarme «Billigtestländer» ausgelagert. In einkommensärmeren Ländern ist auch die Rekrutierung von «Freiwilligen» viel einfacher, weil der einzige Zugang zu Medikamenten häufig über die Teilnahme an klinischen Tests führt.

Je mehr Medikamentenversuche in Länder mit schwacher Kontrolle ausgelagert werden, desto grösser ist die Gefahr, dass internationale ethische Standards nicht eingehalten werden. Verletzungen treten etwa beim Einholen der Einverständnisse, bei missbräuchlicher Placebo-Verabreichung, verfrühtem Behandlungsabbruch nach Testende oder bei fehlenden Entschädigungen für gravierende Nebenwirkungen auf. Untersuchungen von Public Eye in Argentinien, der Ukraine, Russland und Indien zeichneten ein alarmierendes Bild: die Patient*innen wussten in einigen Fällen nicht einmal, dass sich ihre Medikamente noch in der Testphase befanden.

Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic überprüft die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten anhand der von Pharmakonzernen eingereichten klinischen Versuchen für die Arzneimittelzulassung in der Schweiz. Doch es beschränkt sich dabei weitestgehend auf die wissenschaftlichen Standards, statt auch sicherzustellen, dass bei den Tests die Rechte der Versuchsteilnehmenden respektiert und ethische Richtwerte eingehalten wurden. An die Öffentlichkeit dringt noch weniger: Transparenzmangel führt dazu, dass eine unabhängige Überprüfung der im Ausland durchgeführten Versuche bei einer Medikamentenzulassung in der Schweiz kaum möglich ist. 

Public Eye forderte deshalb mit der Kampagne 2013, dass das bundesrätliche Mandat von Swissmedic künftig auch bei Versuchen im Ausland die systematische Überprüfung der ethischen Standards beinhaltet. Fehlen diese Kontrollen, drohen den Betroffenen erhebliche Gesundheitsrisiken und dem Pharmastandort Schweiz politische Reputationsrisiken. Denn während in der EU die verstärkten Bemühungen für mehr Transparenz und Kontrollen ethischer Standards langsam Wirkung zeigen, sitzt die Schweiz weiter im Wartezimmer.

Das waren die Inhaltsstoffe von «Berseticum Forte»:

  • Swissmedic soll für klinische Versuche in einkommensärmeren Ländern, die der Medikamentenzulassung in der Schweiz dienen, nachträgliche ethische Kontrollen einführen.

  • Alle, also auch im Ausland durchgeführte Medikamententests, die der Schweizer Marktzulassung dienen, sollen in dem geplanten nationalen Register erfasst werden.

  • Swissmedic soll sämtliche Berichte zu den Versuchen veröffentlichen, welche als Entscheidungsgrundlage für eine Zulassung dienen. 

  • Die Pharmaindustrie soll einkommensärmere Länder nicht als Versuchslabore betrachten und Menschen aus Profitüberlegungen als Versuchskaninchen missbrauchen.

  • Klinische Versuche sollten nur noch dann im Ausland durchgeführt werden, wenn die lokale Bevölkerung wirklich und direkt von deren Ergebnissen profitieren kann.

Ballonbotschaft an Berset: Über 13‘000 Unterschriften gegen unethische Medikamentenversuche

In der Bevölkerung zeigte das «Berseticum forte» von Public Eye Wirkung. 13‘017 Bürger*innen forderten Gesundheitsminister Alain Berset auf, der Zulassungsbehörde Swissmedic strengere und verbindlichere Kontrollen bei klinischen Medikamententests vorzuschreiben. Bei der Übergabe des Petitionspakets wurden Berset-Ballons in den Himmel geschickt mit der Botschaft: Es braucht mehr als leere politische Wünsche, damit Menschen in einkommensärmeren Ländern nicht mehr zu Versuchskaninchen der Pharmakonzerne werden. 

Die zweimonatige Kampagne hat die heikle Thematik ins Bewusstsein der Schweizer Öffentlichkeit gerückt. Das Problem wurde von diversen Ethik-Instituten anerkannt und einige davon – z. B. die Kantonale Ethikkommission des Kantons Zürich – unterstützten Massnahmen gegen diese Missstände. Auf dem Schweizer Markt sollen künftig keine ethisch fragwürdig getesteten Medikamente mehr im Umlauf sein, und in diesem heiklen Geschäftsbereich der Pharmafirmen braucht es grössere Transparenz und mehr behördliche Kontrolle.

Wie hat «Berseticum Forte» gewirkt?

Infolge der Kampagne von Public Eye gab es Gespräche zwischen Bundesrat und Behörde, wie Alain Berset in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mitgeteilt hat. Eine Interpellation zu dieser Frage im Nationalrat wurde in der Wintersession 2013 vom Bundesrat beantwortet.

Mit der Überarbeitung des Heilmittelgesetzes (HMG) und der entsprechenden Verordnungen wurde eine Rechtsgrundlage zur Durchführung von Inspektionen im Ausland (HMG Art. 64a) geschaffen.  Pharmakonzerne müssen zudem eine Selbstdeklaration abgeben und einen Risikomanagement-Plan verfassen, dass die Untersuchungen am Menschen nach den anerkannten Regeln der «Guten Praxis der klinischen Versuche» und der «Guten Vigilance-Praxis» durchgeführt worden sind (Arzneimittel-Zulassungsverordnung, AMZV Art. 5; Art. 5a). Diese Selbstdeklaration wird jedoch nicht veröffentlicht und der Risikomanagement-Plan, dessen Zusammenfassung  für die Öffentlichkeit zugänglich ist, enthält keine Kriterien, welche den Schutz der Versuchsteilnehmenden und die ethische Durchführung der klinischen Versuche im Ausland belegen. Auch die Inspektionen im Ausland sollen primär die Qualität der Herstellung sicherstellen. Werden Tests in einem schwachen Regulierungskontext durchgeführt, kann es sich Swissmedic nicht erlauben, ihr Urteil nur aufgrund der Angaben von Pharmakonzernen zu fällen. Die Unternehmen haben selbstverständlich kein Interesse daran, ethische Defizite klinischer Studien zu untersuchen.

Eine 2019 von Public Eye durchgeführte Studie zeigt, dass der Zugang zu den im Ausland getesteten Behandlungen («Post-trial access») für die dortige Bevölkerung nicht gewährleistet ist. Zwar beantragen Pharmakonzerne deren Zulassung vermehrt, doch aufgrund der hohen Preise bleiben sie für die meisten Menschen weiterhin unerschwinglich.

Kleine Fortschritte wurden also erreicht, die Praxis der Pharmakonzerne bei klinischen Versuchen im Ausland und die Regulierung, Kontrolle und Sanktionen bei der Zulassung in der Schweiz sind jedoch noch immer ungenügend und Public Eye setzt sich weiterhin für die Rechte der Versuchsteilnehmenden überall auf der Welt ein.