Agrarrohstoffhandel Orangennation Schweiz
Silvie Lang, 15. Juni 2020
Mit der Louis Dreyfus Company (LDC) beherbergt Genf einen der drei wichtigsten Trader im milliardenschweren Orangensaftbusiness – und eines der grössten Agrarhandelshäuser überhaupt. Von hier aus steuert die Firma ihr globales Rohstoffbusiness, welches neben dem Anbau von Orangen und der Herstellung sowie dem Handel von Saft auch das Geschäft mit Getreide, Soja, Kaffee, Baumwolle oder Zucker umfasst.
Nicht nur LDC, sondern praktisch alle gewichtigen Agrarhändler – Cargill, ADM, Bunge, Cofco oder Glencore – wickeln globale Handelsgeschäfte über die Schweiz ab; fast ausnahmslos im Transithandel, also ohne die Güter physisch zu importieren oder zu exportieren. Unser Bericht «Agricultural Commodity Traders in Switzerland. Benefitting from Misery?» (2019) brachte erstmals Licht in diese intransparente Branche, die sich aufgrund massgeschneiderter Steuerregimes und mangelnder Regulierung des Rohstoffhandelssektors hierzulande wohl fühlt. Gemäss unseren Berechnungen – offizielle Zahlen zu Marktanteilen gibt es nicht – wird mindestens die Hälfte des weltweit gehandelten Getreides, 40% des Zuckers, jede dritte Kakao- und Kaffeebohne, 25% der Baumwolle sowie 15% des Orangensaftes über in der Schweiz ansässige Trader gehandelt.
Louis Dreyfus Company – ein gigantischer Familienkonzern
Die Louis Dreyfus Company (LDC) ist ein privater, im holländischen Rotterdam registrierter Konzern mit operativem Hauptsitz in Genf. Hier steuert LDC seinen Handel mit Ölsaaten, Getreide, Reis, Kaffee, Baumwolle, Zucker und Saft sowie das Fracht- und Finanzgeschäft. LDC ist – gemessen am Umsatz (33 Milliarden US-Dollar 2019) – nach Cargill, ADM und Bunge der viertgrösste Händler und Verarbeiter von Agrarprodukten weltweit. Der Konzern produziert, verarbeitet und transportiert gemäss eigenen Angaben rund 80 Millionen Tonnen Landwirtschaftsgüter jährlich, beschäftigt weltweit rund 18'000 Mitarbeitende und ist in über 100 Ländern aktiv.
Das 1851 vom Elsässer Léopold Louis Dreyfus gegründete Familienunternehmen ist heute fest in der Hand von Margarita Louis Dreyfus. Die Wahlschweizerin ist seit 2011 Verwaltungsratspräsidentin. Nach dem Tod ihres Ehemanns Robert Louis Dreyfus (2009), der ihr und den gemeinsamen Söhnen 61% der Anteile an LDC hinterlassen hatte, kaufte sie sukzessive die Beteiligungen anderer Familienmitglieder am Konzern auf. Heute ist sie im Besitz von 96,6% der Anteile. Für den Rückkauf der letzten Tranche von 16,6% im Jahr 2019 erhielt sie von der Credit Suisse einen Kredit von 1,03 Milliarden US-Dollar, musste als Sicherheit allerdings ihre Anteile an der Holding hinterlegen.
Gefährliche Konzentration
Nicht nur der Handel von Agrargütern ist in den Händen einiger weniger mächtiger Firmen. Die Konzentrationsprozesse im Agro-Food Sektor haben auch vor den anderen Stufen globaler Wertschöpfungsketten, vor allem der Produktion und der Verarbeitung, nicht Halt gemacht. In der Herstellung von Orangensaft beispielsweise kontrollieren nur drei Firmen – der Schweizer Händler LDC sowie die brasilianischen Sucocitrico Cutrale und Citrosuco – knapp drei Viertel des globalen Marktes.
Diese geballte Marktmacht zeigt sich insbesondere in Brasilien, im Hauptproduktionsland von Orangen. Seit den 1980er-Jahren haben die grossen Unternehmen sukzessive Verarbeitungsanlagen aufgekauft, andere Firmen übernommen und die kleineren Produzierenden zunehmend aus dem Markt verdrängt. Der brasilianische Verband der Orangenproduzenten, Associtrus, geht davon aus, dass seit Beginn der 1990er-Jahre mehr als 20’000 Landwirtschaftsbetriebe den Anbau von Saftorangen aufgeben mussten, da dieser nicht mehr rentabel war. Gab es damals noch über 30’000 unabhängige Betriebe, sind es heute noch knapp 7'000.
Ihre Machtposition erlaubt den drei verbleibenden grossen Firmen, die politischen Rahmenbedingungen in den Produktionsländern und auch den Sitzstaaten zu ihren Gunsten mitzugestalten.
Und sie verschafft ihnen grossen Einfluss auf die Preispolitik. Im Gegensatz zu den zahlreichen schwächer gestellten Produzierenden können sie die Abnahmepreise für Orangen bestimmen; manchmal drücken sie diese gar unter den Produktionspreis.
Für Flávio Viegas ist es eindeutig: «Die Pflücker leben heute schlechter als vor zwanzig Jahren», sagt er. Und er, das ist nicht etwa ein Gewerkschafter, sondern der Präsident von Associtrus, dem Verband kleiner und mittlerer brasilianischer Orangenproduzenten. Das liege daran, sagt er, dass sich die mächtigen Player in der Industrie «keine Konkurrenz mehr machen».
Das Orangensaftkartell
1999 eröffnete das brasilianische Kartellamt CADE eine Untersuchung gegen ein Kartell in der Orangensaftindustrie. Auf der Anklagebank: Cutrale, Citrovita (heute Citrosuco), die Kooperative Coinbra Frutesp (später von LDC aufgekauft), Cargill, Fischer, Bascitrus, Abecitrus, der damalige Industrieverband sowie neun weitere Personen – sie alle wurden beschuldigt, gemeinsam die Abnahmepreise gedrückt zu haben. 2016 wurde das Verfahren beigelegt, nachdem die Unternehmen ihre Preisabsprachen eingestanden hatten und insgesamt 301 Millionen Reais – 54 Millionen Franken (Wechselkurs Juni 2020) – in einen Fonds bezahlt hatten.
Doch verbessert hat sich die Lage seither nicht. Die meisten dieser Namen sind heute verschwunden, und der Markt hat sich um die drei Konzerne Cutrale, Citrosuco und Louis Dreyfus neu organisiert. Die Ironie der Geschichte: Flávio Viegas war einst selbst Direktor der Kooperative Coinbra Frutesp, ehe sich LDC 1993 entschied, mehr als nur ein Händler zu werden, und eigene Plantagen in Brasilien zu kaufen begann. Für viele der unabhängigen Produzenten existiert das Kartell weiter. Die drei Giganten haben ihre Kräfte seit 2009 in dem Exportverband Citrus BR gebündelt. Dessen Hauptziel ist es gemäss seiner Webseite, «die gemeinsamen Ziele der Zitrusfrucht-Exporteure auf nationaler und internationaler Ebene zu verteidigen» – unter anderem dadurch, dass man «Handelsfragen überwacht», «Handelsschranken bekämpft» oder «das Image des Sektors fördert». Associtrus hat im September 2019 bei einem Gericht in London Klage gegen die grossen Exporteure eingereicht, um die Rechte der rund 500 unabhängigen Produzenten geltend zu machen, die der Verband vertritt. Er verlangt Entschädigungszahlungen von mehr als drei Milliarden Reais (mehr als 540 Millionen Schweizer Franken) für die Einkünfte, die ihren Mitgliedern aufgrund der Preismanipulationen entgangen sind. Die Klage ist pendent.
«From farm to fork»
Wie bei anderen Agrarrohstoffen – Kakao, Kaffee, Getreide oder Soja – ist auch im Orangensaftgeschäft neben den Konzentrationsprozessen eine starke vertikale Integration im Gange. Das heisst, die Firmen sind keine reinen Handelsunternehmen mehr, sondern dehnen ihre Tätigkeiten und ihren Einflussbereich zunehmend aus und rücken beispielsweise bis in den Anbau der Rohstoffe vor. So können sie massgeblich über die Produktions- und Herstellungsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette entscheiden – vom Anbau der Orangen auf den Plantagen über die Herstellung von Saft bis zum Abfüllen. Sprich: Sie bestimmen, was unter welchen Bedingungen angebaut, geerntet, verarbeitet, gehandelt und vertrieben wird.
Lange Zeit stellte sich die Branche selbst als Bindeglied zwischen den Produzierenden (Anbaustufe) und den Verarbeitern (Hersteller von Lebens-, Genuss- oder Futtermitteln) dar, das Waren im Auftrag seiner Kunden handelt und transportiert. Dieses Bild entspricht jedoch längst nicht mehr der Realität.
Die Agrarhändler sind «global value chain manager» geworden, also «Manager globaler Wertschöpfungsketten».
Viele besitzen neben eigenen Anbauflächen auch Hochseeflotten, manche generieren gar mehr Umsatz mit der Herstellung von Lebens- oder Futtermitteln als mit dem eigentlichen Handel. Diese sogenannte vertikale Integration zeigt sich nicht zuletzt an den Slogans der Firmen. LDC beispielsweise verspricht Dienstleistungen «From farm to fork», also vom Feld bis auf den Teller. Mit eigenen Plantagen, Lagerinfrastruktur, Verarbeitungsfabriken, Hafenterminals und Hochseeschiffen ist LDC entlang der gesamten Wertschöpfungskette vertreten.
Am Beispiel des Orangensaftgeschäfts zeigt sich diese Integration deutlich: In Brasilien besitzt LDC gemäss eigenen Angaben 38 Zitrusplantagen mit insgesamt über 25‘000 Hektaren Anbaufläche. Dazu kommen drei eigene Anlagen, in denen die Orangen zu Konzentrat oder Saft verarbeitet werden. Über 8‘000 Mitarbeitende beschäftigt LDC auf den brasilianischen Plantagen und in den Fabriken insgesamt. Weiter besitzt das Unternehmen sowohl im brasilianischen Santos wie auch im belgischen Gent Hafenterminals zur Lagerung des Saftes sowie drei Safttanker für den Übersee-Transport.
LDC liefert den Frischsaft oder das Konzentrat entweder direkt an Kunden oder verarbeitet die Rohprodukte in Gent je nach Kundenbedürfnis weiter – durch Mischen verschiedener Qualitäten, Hinzufügen von Fruchtfleisch oder anderer Fruchtsäfte. Das Unternehmen verkauft mehr als 30 Zitrusprodukte an über 400 Kunden in 70 Ländern: Neben gefrorenem Orangensaft-Konzentrat und «Not from concentrate»-Saft auch Zitronen- und Limettensaft sowie Nebenprodukte wie Öle, Aromen, getrocknete Schalen (aus denen Pektin für die Nahrungsmittelindustrie gewonnen wird), Fruchtfleisch und Fruchtfleischpellets (z.B. als Tierfutterbestandteil).
LDC verfolgt zudem die Strategie, in Partnerschaften mit anderen grossen Akteuren aus der Lebensmittelindustrie mit eigenen Marken auch näher an die Endkonsumierenden zu gelangen. Ausdruck davon ist das 2019 gegründete Joint Venture mit der chinesischen Kaffee-Kette Luckin Coffee, um (vorerst) Orangen-, Zitronen- und Apfelsaft an die Konsumentinnen und Konsumenten in den Luckin-Coffee-Filialen zu bringen.
Millionen Kleinproduzenten, wenige mächtige Abnehmer
Die vertikale Ausdehnung der Händler bis in den Anbau von Agrarrohstoffen verdeutlicht das grosse Machtgefälle im Agro-Food Sektor. Wenige mächtige Unternehmen stehen durch ihr Vorrücken in die Anbaustufe Millionen von Kleinproduzenten und Arbeiterinnen nun viel direkter gegenüber.
Dies ermöglicht ihnen einen sicheren Zugang zu den Rohstoffen sowie mehr Kontrolle über die Produktionsbedingungen und Preise. Und zwar nicht nur in ihren eigenen Landwirtschaftsbetrieben, sondern auch in jenen, welche sie aufgrund ihrer Machtstellung de facto kontrollieren, wie sich am Beispiel Orangen zeigt. Da diese nicht über längere Zeit gelagert werden können, müssen unabhängige Produzierende oft auf die Bedingungen der mächtigen Abnehmer eingehen: So müssen sie etwa zeitweise auch Tiefstpreise akzeptieren, weil ihre Produkte sonst schlicht verderben würden und sie gar keine Einkünfte mehr hätten. Im Umkehrschluss heisst das auch:
Je weiter die Handelsunternehmen in den Anbau vorrücken, umso direkter sind sie also mitverantwortlich für die oft ausbeuterischen Produktionsbedingungen.
Die Produktion von Orangensaft
Jährlich werden weltweit rund 50 Millionen Tonnen Orangen produziert. Der Anbau konzentriert sich vor allem auf tropische und subtropische Gebiete rund um den Äquator, den sogenannten Zitrusgürtel. Das wichtigste Produktionsland ist Brasilien: 15 Millionen Tonnen werden dort angebaut. Mit ca. 7 Millionen Tonnen folgt China als zweitgrösster Produzent, vor den EU-Ländern mit über 5 Millionen Tonnen.
Gut 40% aller weltweit geernteten Orangen werden zu Saft verarbeitet; im Hauptproduktionsland Brasilien sind es etwa zwei Drittel. Der grösste Teil davon wird als gefrorenes Konzentrat gehandel. Im Gegensatz zu China und der EU hat sich Brasilien auf die Verarbeitung zu und den Export von Orangensaft spezialisiert und hält einen Marktanteil von 80% beim lobalen Export. Mexiko und die EU folgen als zweit- beziehungsweise drittgrösste Orangensaft-Exporteure, während die chinesischen Orangen vor allem für den inländischen Konsum angebaut werden.
Eingefroren und konzentriert
Es gibt zahlreiche verschiedene Orangensorten, wovon sich einige speziell für die Herstellung von Saft eignen. Die meisten Produzierenden bauen verschiedene Sorten an, die nicht gleichzeitig reif werden, um so den Markt möglichst das ganze Jahr über beliefern zu können. Um Orangensaftkonzentrat herzustellen, werden dem frischen Saft zunächst die Aromen entzogen, bevor er auf etwa ein Sechstel des Volumens eingedampft wird. Anschliessend wird das Konzentrat für die Lagerung und den Transport eingefroren.
Vor dem Konsum müssen dem Konzentrat wieder Wasser, Essenzen und – falls erwünscht – Fruchtfleisch zugefügt werden. Dies machen die sogenannten Abfüller; grosse Getränkehersteller oder auch kleineren Fruchtsaftproduzenten. Sie beziehen das Konzentrat in der Regel von mehr als einem der grossen Händler (LDC, Cutrale oder Citrosuco), wobei die weltgrössten Getränkehersteller wie Coca-Cola oder Pepsi oft einen Hauptlieferanten haben. Neben dem direkten Einkauf bei Orangensafthändlern wird gefrorenes Orangensaftkonzentrat auch an den Agrarbörsen gehandelt. Die Abfüller setzen den Saft schliesslich an Detailhändler ab, welche ihn als Markenprodukt oder als Eigenmarke an Konsumierende verkaufen. Den höchsten Pro-Kopf-Konsum von Orangensaft hat die EU, gefolgt von den USA.
Kaum Transparenz
In der Schweiz wurden 2019 rund 56 Millionen Liter Orangensaft verkauft, das sind etwa 6,5 Liter pro Person. Woher dieser Saft stammt, ist für die Konsumentinnen und Konsumenten kaum nachvollziehbar. Bei diversen Marken ist auf der Verpackung nicht einmal das Herkunftsland der Orangen angegeben, bei anderen werden mehrere Länder aufgeführt. Die Detailhändler Migros und Coop geben keine Auskunft darüber, ob einer der drei grossen Händler Cutrale, Citrosuco und LDC bei der Herstellung oder dem Handel des von ihnen verkauften Saftes involviert ist. Über Lieferanten vor Ort würde keine Auskunft erteilt, hiess es. Lediglich die Herkunftsländer des Bio- oder Fairtrade-Saftes wurden auf Anfrage bekanntgegeben.
Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen
Die Produktion von Orangen ist - wie bei vielen anderen Agrarrohstoffen - arbeitsintensiv. Während die Pflege des Bodens und der Bäume auf grossen Plantagen mechanisiert ist, werden die Früchte üblicherweise von Hand geerntet – körperliche Schwerstarbeit, welche oft bei prallem Sonnenschein oder auch im strömenden Regen durchgeführt wird. Arbeiterinnen und Arbeiter pflücken Orangen, füllen sie in Säcke ab und tragen diese schweren Lasten zu den Sammelstellen. Bei der Ernte drohen Stürze von Leitern und Verletzungen durch die Stacheln der Orangenbäume; Erdlöcher von Gürteltieren sowie Schlangen erschweren die Arbeit zusätzlich. Dazu kommen Vergiftungen beim Versprühen von Pestiziden (Orangen-Monokulturen sind äusserst anfällig für Krankheiten und Schädlinge, der Pestizideinsatz entsprechend intensiv), weil angemessene Schutzausrüstung sowie Schulungen meist fehlen.
Und die Arbeiterinnen und Arbeiter riskieren ihre Gesundheit meist zu Hungerlöhnen.
Die Löhne setzen sich in der Regel aus einem Fixlohn und einer Produktivitätskomponente zusammen, hängen also davon ab, wie viele Orangen pro Tag geerntet werden. Wer Glück hat, kommt so auf den gesetzlich festgelegten Mindestlohn (wobei dieser längst nicht existenzsichernd ist), viele erreichen jedoch nicht einmal dieses gesetzlich vorgeschriebene Minimum – ein klarer Verstoss gegen brasilianisches Arbeitsrecht und international anerkannte Menschenrechte.
Der Orangensektor ist ein typisches Beispiel für die grundlegenden und systemischen Probleme im Anbau von Agrarrohstoffen, wie die weitverbreiteten und gravierenden Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen. Millionen von Menschen weltweit leisten im Landwirtschaftssektor Schwerstarbeit, erhalten aber keine existenzsichernden Einkommen und Löhne. Der Agrarsektor gilt auch als Hochrisikosektor für Zwangsarbeit, welcher 2016 gemäss Schätzungen der ILO über zwei Millionen Menschen ausgesetzt waren, und für Kinderarbeit. Die ILO gibt an, dass 108 Millionen Kinder in der Landwirtschaft unter missbräuchlichen Bedingungen arbeiten. Das Gesundheitsrisiko in diesem Sektor ist sehr hoch. Die ILO schätzt, dass jährlich mindestens 170’000 landwirtschaftliche Arbeitskräfte bei ihrer Tätigkeit ums Leben kommen, und Millionen schwere Verletzungen erleiden oder erkranken, häufig im Zusammenhang mit der Anwendung von teils hochgefährlichen Pestiziden.
Auch Landkonflikte sind ein weit verbreitetes Problem; oft verursacht durch den grossflächigen Landerwerb für den Anbau von Soja, Palmöl, oder Zuckerrohr. Zudem ist der Agrarsektor bei Weitem der wichtigste Treiber für die weltweite Abholzung. Im Amazonas Regenwald verursacht die kommerzielle Landwirtschaft, insbesondere die Viehzucht und der Sojaanbau, gemäss einer Studie im Auftrag von The Dialogue, eines Netzwerks zur Förderung sozialer Gerechtigkeit in Lateinamerika, sogar 80% der Abholzung.
Geschäfte mit politisch exponierten Personen, Korruption oder Steuervergehen sind im Agrarrohstoffhandelssektor ebenfalls keine Seltenheit. Dazu gehört etwa die Manipulation konzerninterner Verrechnungspreise, das sogenannte «transfer pricing», zur künstlichen Verschiebung steuerpflichtiger Gewinne. Ein jüngeres solches Beispiel stammt aus dem Orangensaftbusiness: Im Jahr 2019 wurden rund 85% des aus Brasilien exportierten Orangensaftes an Firmen derselben Gruppe im Ausland verkauft – zu Verrechnungspreisen, die bis zu 30% unter dem Marktpreis lagen. Die brasilianischen Steuerbehörden schätzen, dass ihnen so in den letzten fünf Jahren umgerechnet über 450 Millionen US-Dollar an Abgaben aus dem Zitrussektor entgangen sind.
Die Ursachen für diese weit verbreiteten Verstösse liegen im Machtgefälle zwischen grossen Agrarhändlern und kaum organisierten Kleinproduzenten und Arbeiterinnen.
Die äusserst ungleichen Macht- und Verhandlungspositionen festigen ein System, das vor allem den grossen multinationalen Firmen zugutekommt – zum Nachteil von Millionen von Menschen in der Produktion.
Unsere Forderungen: Transparenz und Regulierung
Die marktmächtigen Unternehmen, welche einen erheblichen Einfluss auf die Produktionsbedingungen haben, dürfen sich nicht länger aus der Verantwortung stehlen und müssen grundlegende Menschenrechte in ihrer Lieferkette sicherstellen.
Mit Blick auf die Produktionsbedingungen von Agrarrohstoffen und insbesondere von Orangen in Brasilien fordert Public Eye von den Agrarrohstoffhändlern, allen voran von LDC:
- Mehr Transparenz entlang der Lieferkette und vor allem die Offenlegung der Zulieferer, um die Rückverfolgbarkeit sicherzustellen;
- die Einhaltung aller international anerkannten Menschen- und Arbeitsrechte in der Produktion von Agrarrohstoffen, mit einem besonderen Fokus auf deren Durchsetzung in Zulieferbetrieben;
- die Formalisierung von Arbeitsverhältnissen, um allen Arbeitnehmenden in ihren Lieferketten ein Mindestmass an Rechtssicherheit zu gewährleisten;
- die Garantie eines national einheitlichen Arbeitsschutzes in Kollektivverträgen mit verschiedenen Gewerkschaften, so dass allen Arbeitnehmenden der gleiche Schutz gewährt wird;
- die Gewährleistung des Schutzes der Gesundheit, indem kostenlos angemessene Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt und der richtige Umgang damit instruiert wird;
- kurzfristig sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmenden mindestens den gesetzlich festgelegten Mindestlohn erhalten, und zwar unabhängig von der Produktivität;
- ein öffentliches Bekenntnis, dass mittelfristig alle Arbeitnehmenden einen existenzsichernden Lohn erhalten, sowie die Beteiligung an den sektorweiten Bestrebungen zur Erarbeitung eines entsprechenden Existenzlohn-Benchmarks und Umsetzungsplans mit konkreten zeitlichen Zielen und Meilensteinen.
Auch die Schweiz steht als Sitzstaat von global tätigen Agrarrohstoffhändlern in der Verantwortung. Public Eye fordert deshalb von der Schweizer Regierung und dem Parlament:
- die Transparenz im Rohstoffhandel in der Schweiz zu gewährleisten, insbesondere durch die regelmässige Veröffentlichung relevanter und umfassender statistischer Daten, welche über die Anzahl der Unternehmen und Beschäftigten hinausgehen;
- durch Regulierung sicherzustellen, dass die in der Schweiz ansässigen Rohstoffhändler die international anerkannten Menschenrechte respektieren und die in den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verankerte Sorgfaltsprüfung im Bereich Menschenrechte und Umwelt umsetzen;
- Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch hier ansässige Agrarrohstoffhändler den Zugang zu gerichtlichen und aussergerichtlichen Rechtshilfemechanismen in der Schweiz zu gewährleisten;
- sicherzustellen, dass die negativen Folgen der Marktkonzentration und des Marktmachtmissbrauchs durch in der Schweiz ansässige Agrarhändler entlang globaler Wertschöpfungsketten in der Wettbewerbspolitik und -praxis berücksichtigt werden.