Ethische Verstösse bei klinischen Studien

© Roger Anis
Klinische Versuche werden aus strategischen Gründen und zur Profitmaximierung in einkommensärmere Länder ausgelagert. Ethische Richtlinien werden dabei in vielen Fällen nicht eingehalten. Und nach der Zulassung der dort getesteten Medikamente können sie sich die Menschen vor Ort aufgrund der hohen Preise oft nicht leisten. Das ändert sich nur mit besserer Regulierung und einer aktiven Behörde, welche die ethische Durchführung der Studien bei deren Zulassung in der Schweiz überprüft.

Pharmakonzerne wie Roche und Novartis lagern klinische Versuche in ärmere Länder aus. In einkommensärmeren Ländern ist die Teilnahme an einer klinischen Studie oft die einzige Chance für Menschen, eine Behandlung zu erhalten. Recherchen von Public Eye in sechs Ländern auf vier Kontinenten bestätigen, dass diese «Globalisierung von klinischen Versuchen» häufig mit der Verletzung ethischer Standards einhergeht. In der Schweiz sind die Kontrollen unzureichend: Swissmedic, die für die Zulassung von Medikamenten zuständige Stelle, ergreift nicht die notwendigen Massnahmen, um diesem Skandal ein Ende zu setzen.

Wieso werden Versuche ausgelagert?

1. BILLIGER, und viele potentielle Studienteilnehmende

Die Verlagerung der Versuche in einkommensärmere Länder erlaubt es den Pharmafirmen, ihre Kosten zu senken. In vielen Ländern hat die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Teilnahme an einem klinischen Versuch ist für viele Betroffene die einzige Möglichkeit, Zugang zu (besserer) medizinischer Versorgung zu erhalten. Die Hürde, Versuchspersonen zu gewinnen, ist daher niedrig. Es gibt also mehr Personen, die bereit sind, an Versuchen teilzunehmen und sie sind leichter zu überzeugen. Auch sind die Arbeitskräfte, sowie die Anwerbe- und die Betreuungskosten für klinische Versuche in diesen Ländern günstiger.

2. SCHNELLER, und daher lukrativer

Die Auslagerung in ein einkommensärmeres Land erlaubt es den auftraggebenden Firmen zudem, die Gesamtdauer eines Versuchs um durchschnittlich ca. sechs Monate zu verkürzen. Das lohnt sich, denn jeder zusätzliche Verkaufstag eines Arzneimittels mit Patentschutz und daher einer Monopolstellung kann zu Mehreinnahmen von über einer Million Dollar führen.

3. EINFACHER, da die Kontrollen vor Ort oft unzureichend sind

Die Regulierung bezüglich klinischer Versuche ist in einkommensärmeren Ländern oft weniger streng und die Kontrollen sind begrenzt. Das Risiko, dass gegen Menschenrechte verstossen wird, ist entsprechend gross. Probleme bei der Einholung des Einverständnisses der Teilnehmenden; fehlende Entschädigungen bei gravierenden Nebenwirkungen; mangelnde medizinische Versorgung im Anschluss an den Versuch; Versuchsteilnehmende in Kontrollgruppen, denen die bestmögliche Standardtherapie vorenthalten werden: Die von Public Eye durchgeführten Recherchen  zeigen viele ethische Verstösse bei klinischen Studien auf.

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Unsere Recherchen zeigen: Ethische Verstösse sind eher die Regel als die Ausnahme

Public Eye hat in sechs Ländern, die zu den Top-Destinationen der Pharmaindustrie für klinische Studien gehören, Recherchen durchgeführt. Unsere Recherchen in Indien, Argentinien, der Ukraine und Russland im Jahr 2013, in Ägypten im Jahr 2016 und ein zwischen 2015 und 2017 untersuchter Fall in Polen zeichneten ein düsteres Bild dieses sehr undurchsichtigen Sektors. 

Weitere Informationen

  • Unsere Studien: Problematische Auslagerung von klinischen Versuchen

    Public Eye hat mit Partnerorganisationen und Journalist*innen Recherchen in Russland, der UkraineArgentinien, Indien und Ägypten durchgeführt. Angesichts der Intransparenz bei der Durchführung von Medikamententests gestalteten sich die Recherchen als schwierig. Veröffentlicht wird kaum etwas; die Forschungsteams unterstehen der Schweigepflicht und befürchten, rechtlich belangt zu werden, wenn sie reden würden. Testpersonen zu identifizieren oder sich ihnen zu nähern, ist ebenfalls sehr schwierig. Nach Gesprächen mit Schlüsselfiguren, dem Studium vertraulicher Dokumente und unzähliger Faktenchecks ergab sich, dass in jedem dieser Länder schwerwiegende ethische Verstösse begangen wurden. Nach der Publikation der Recherchen in Ägypten versuchte Roche Public Eye mit einer superprovisorischen Verfügung einzuschüchtern. Die Klage wurde jedoch vollumfänglich abgewiesen. Schliesslich hat Public Eye einen Fall eines unethischen klinischen Versuchs von Novartis in Polen untersucht. De Betroffene musste seine Klage gegen Novartis jedoch fallen lassen, da die Beweise vom Schweizer Gericht als nicht zulässig erachtet wurden.

    Keine freie, informierte Einwilligung der Versuchsteilnehmenden

    Jede Person, die an einem klinischen Versuch teilnimmt, muss dazu eine auf ihrem freien Willen und entsprechenden Informationen beruhende Einwilligung geben. Angesichts mangelnder Gesundheitsversorgung und prekärer sozialer Umstände sind diese Bedingung schwierig zu garantieren. Ärztinnen und Ärzte, häufig selbst mit der Durchführung der Studie beauftragt, geniessen aufgrund ihres Sozialstatus oft ein hohes Ansehen. Sie können dadurch unangemessenen Einfluss auf die Patient*innen ausüben, die sie für einen klinischen Versuch gewinnen möchten. Die Versuchspersonen werden vorab oft ungenügend informiert. Sie wissen manchmal gar nicht, dass sie an einem Versuch teilnehmen, und sind sich daher der Risiken, die mit einer Therapie in der Versuchsphase verbunden sein können, nicht bewusst.

    Das Vorenthalten der bestmöglichen Standardtherapie

    Der Einsatz von Placebos zu Vergleichszwecken in der Kontrollgruppe eines klinischen Versuchs erleichtert es, klarere Studienergebnisse zu erhalten. Es ist aber ethisch inakzeptabel, Versuchsteilnehmende mit der Gabe von Placebo einem Gesundheitsrisiko auszusetzen, falls es Medikamente gibt, die bereits auf dem Markt zugelassen und erwiesenermassen wirksam sind. Die Verweigerung der bestbewährten Behandlung der Teilnehmenden der Kontrollgruppe stellt nach der Deklaration von Helsinki ebenfalls eine Verletzung ethischer Standards dar.

    Keine finanzielle Entschädigung bei Folgeschäden

    Im Falle eines Schadens oder eines Todesfalles im Zusammenhang mit den getesteten Medikamenten muss eine finanzielle Entschädigung gewährt werden. Die Mehrheit der Menschen, die an einem klinischen Versuch teilnehmen, ist bereits krank. Sie riskieren durch ihre Teilnahme, dass sich ihr Gesundheitszustand im Verlauf der Studie weiter verschlechtert. Andere Testpersonen leiden wiederum an den Folgen der Tests und sterben aufgrund des getesteten Medikaments. Allzu oft wird der Zusammenhang zwischen dem erlittenen Schaden und dem getesteten Medikament nicht von unabhängigen Fachpersonen untersucht, sondern von den Studienverantwortlichen selbst beschrieben und bagatellisiert. Die Betroffenen verfügen nicht über die notwendigen Mittel, um ihre Interessen zu verteidigen.

    Abbruch der Therapie bei Beendigung der Studie

    Wer zustimmt, an einem Versuch teilzunehmen, muss die Garantie haben, dass nach Abschluss des Versuchs weiterhin Zugang zu einer Behandlung besteht, sollte sich das getestete Medikament oder aber eine andere Behandlungsmethode als wirksam erweisen (standard of care). In Wirklichkeit wird die Behandlung aber oft am Ende des Versuchs abgebrochen – ein ernsthaftes Problem für Betroffene jener Länder, in denen der Zugang zu Medikamenten an sich schon beschränkt ist.

    Kein Zugang zu den getesteten Medikamenten

    Roche und Novartis behaupten, dass sie internationale ethische Richtlinien befolgen und klinische Studien nur in Ländern durchzuführen, in denen später eine Zulassung für das getestete Medikament (sofern es sich als wirksam erweist) beantragt wird. Tatsächlich gibt es Fortschritte bei den Zulassungsraten, aber noch immer kommen nicht alle Medikamente in den Ländern, in denen sie getestet wurden, auf den Markt. Und jene, die zugelassen werden, sind wegen ihrer überhöhten Preise für die dortige Bevölkerung oft unzugänglich. Der Zugang zu diesen Medikamenten gleicht aufgrund der unverantwortlichen Preispolitik der Konzerne oft einer Lotterie, wie die Recherchen von Public Eye zum «Post-Trial Access» zeigen. 

  • Unsere Studie: Kein Zugang zu getesteten Medikamenten

    Medikamente, die in einkommensärmeren Ländern getestet wurden, müssen gemäss internationalen ethischen Richtlinien auf dem jeweiligen Markt zugelassen sein. Eine Marktzulassung kann ein Pharmaunternehmen dann beantragen, wenn alle Stufen der klinischen Versuche erfolgreich durchlaufen wurden. Jeder Staat hat eine eigene Zulassungsbehörde, die solche Gesuche überprüft, die Mitgliedsländer der EU haben zudem eine gemeinsame. 

    In Ägypten hat Public Eye im Jahr 2016 gemeinsam mit den ägyptischen Partnerorganisationen EIPR und Shamseya untersucht, wie viele der im Land getesteten Medikamente dort auch zugelassen waren. Von 24 Medikamenten, die alle in den USA und in der EU vermarktet wurden, wurden nur 15 auch in Ägypten vermarktet. Das entspricht einer Rate von nur 62,5%.

    Eine Studie aus Indien fand im gleichen Zeitraum eine Zulassungsrate für Indien von 66,5%. Eine weitere vergleichbare Untersuchung von 2014 kam zum Schluss, dass in Südafrika nur etwa 40% aller erfolgreich im Land getesteten Medikamente auch im Land vermarktet wurden.

    Die Public Eye Folgestudie «Post-Trial Access to Swiss Medicines in Five Low and Middle-Income Countries» (2019) in Kolumbien, Mexiko, Thailand, der Ukraine und in Südafrika zeigte erfreulicherweise, dass sich die Zulassungsrate merklich verbessert hat.

    Zulassung alleine reicht nicht

    Selbst wenn ein Medikament zugelassen ist, ist es jedoch dessen Preis, der entscheidet, ob man von Verfügbarkeit sprechen kann oder nicht. Und erst wenn ein Medikament verfügbar ist, können Patient*innen davon profitieren. Aus diesem Grund hat Public Eye die Preise der untersuchten Medikamente in allen Ländern abgefragt. Auf den ersten Blick stellten wir fest: Die Preise bewegten sich in der gleichen Grössenordnung wie die Preise in der Schweiz oder in den USA.

    Wenn man sich dann die Mindestlöhne und die Gesundheitsversorgung in den einzelnen Ländern genauer ansieht, erschliessen sich die wahren Verhältnisse. Public Eye hat das unter anderem für Mexiko und die Ukraine getan. Beide Länder sind wegen ihrer Nähe zu den Wirtschaftsmächten USA und EU in einer besonders schwierigen Lage.

    Mexiko liegt im Hinterhof der USA, die Ukraine in dem der EU, den beiden Regionen mit den höchsten Arzneimittelpreisen der Welt. Darüber hinaus haben sowohl Mexiko als auch die Ukraine mit ihren einkommensstarken Nachbarn Freihandelsabkommen geschlossen, die ihren politischen Spielraum einschränken, unter anderem im Hinblick auf die Regulierung und Preisgestaltung von Arzneimitteln.

    Mexiko: Unzulässig hohe Preise

    Eine Arbeiterin, die in Mexiko den Mindestlohn verdiente, hätte zum Zeitpunkt der Untersuchung theoretisch 20 bis 50 Jahre lang arbeiten müssen, um eine Krebsbehandlung mit einem der untersuchten Produkte für nur ein Jahr bezahlen zu können. Selbst mit dem Preis, der von den mexikanischen Krankenversicherungen ausgehandelt wurde, wären die Kosten noch gigantisch gewesen, etwa für die Krebsmedikamente Afinitor (Novartis) und Avastin (Roche): Ein Jahr Behandlung hätte 14 Jahren Arbeit bei Mindestlohn entsprochen.

    20 bis 50 Jahre Arbeit für ein Jahr Krebsbehandlung

    Für Kinder und Erwachsene mit einem sehr schweren Krankheitsverlauf wurde Avastin von der Krankenversicherung übernommen. Auch Herceptin (Roche) war für bestimmte Formen von Brustkrebs vergütet – vorausgesetzt, das Produkt war am Behandlungsort überhaupt erhältlich. Frühere Studien haben gezeigt, dass das für neue Krebsmedikamente in Mexiko oft nicht der Fall ist.

    Ukraine: Krankheitsfall als Armutsrisiko

    Auch bei der sehr lückenhaften Krankenversicherung in der Ukraine mussten Patienti*nnen ihre Medikamente oft selbst bezahlen. Auf dem Papier bot das ukrainische Gesundheitssystem zwar uneingeschränkten Zugang zur Versorgung in öffentlichen medizinischen Einrichtungen, aber in Wirklichkeit litten Ukrainer*innen seit Jahren unter den horrenden Ausgaben im Krankheitsfall, die sie einem Armutsrisiko aussetzte.

    Auch die Ukraine hatte Systeme für eine unentgeltliche Abgabe mancher Arzneimittel. Keines der von uns untersuchten Arzneimittel war jedoch auf der Erstattungsliste des Gesundheitsministeriums aufgeführt. Wie in Mexiko müssen die Preise für Krebsmedikamente in der Ukraine als unzulässig hoch bezeichnet werden – obwohl das Land Testpersonen für die Entwicklung derselben stellte. 

    Tarceva von Roche kostete einen ukrainischen Lungenkrebspatienten über 47’000 Dollar pro Jahr,

    etwa das zwanzigfache des Bruttonationaleinkommens pro Kopf des Landes, welches 2017 bei 2390 US-Dollar lag. Krebsmedikamente sind bekannt für ihre hohen Preise. Als überraschend teuer stellte sich aber auch Ilaris heraus, ein Medikament zur Behandlung von rheumatoider Arthritis. Eine jährliche Behandlung mit Ilaris hätte eine Person, die einen Mindestlohn verdiente, das Einkommen aus 25 Jahren Arbeit gekostet.

    Wie in einer Lotterie

    Unsere Recherche ergab: Pharmafirmen unternehmen oft nur das absolute Minimum zum Nutzen der Gemeinschaften, in denen sie zuvor klinische Forschung betrieben haben. Die verschiedenen von uns untersuchten Krebstherapien wurden offiziell zu Preisen angeboten, die in der Regel weit über das Bruttonationaleinkommen pro Kopf hinausgingen. Viele der neueren Krebsmedikamente waren nicht in der Grundversicherung enthalten, und wenn sie es waren, mussten die Patient*innen das Glück haben, dass sie gerade lieferbar waren. Mit wenigen Ausnahmen glich der Zugang zu diesen Medikamenten einer Lotterie.

    Weder Novartis noch Roche können also von sich behaupten, ihren ethischen Verpflichtungen hinsichtlich des sogenannten Post-Trial Access (also der Verfügbarkeit von Medikamenten nach einem klinischen Versuch) nachzukommen. Grund ist die unverantwortliche Preispolitik der Konzerne. Patient*innen in wirtschaftlich benachteiligten Ländern sind zwar bevorzugte Testpersonen für die klinischen Versuche der Pharmaunternehmen, doch vom therapeutischen Fortschritt können sie kaum profitieren. Viel zu oft müssen sie auf ältere, weniger wirksame Behandlungen zurückgreifen.

Auftragsvergaben an Subunternehmen: mangelnde Transparenz und Verantwortung

Oft führen die Pharmamultis ihre klinischen Versuche nicht selbst durch, sondern vergeben diese Aufgabe an spezialisierte Unternehmen, sogenannte «Contract Research Organizations» (CRO). Diese Form des Subunternehmertums ist problematisch, da sie die Nachvollziehbarkeit erschwert. Auch wer im Falle eines ethischen Verstosses zur Verantwortung gezogen wird, ist bei Auftragsvergabe an CROs schwierig zu klären. Der Fall der von Novartis in Polen durchgeführten klinischen Studie verdeutlicht dieses Problem. Gemäss international gültigen Gesetzen trägt die auftragsvergebende Firma die Verantwortung für die Durchführung eines klinischen Versuchs. In der Praxis verstecken sich die pharmazeutischen Unternehmen jedoch gerne hinter ihren Subunternehmen.