Die TRIPS-Flexibilitäten
So enthält das TRIPS juristisch verankerte Mechanismen, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offenhalten, trotz geltendem Patentschutz spezifische Bedürfnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit geltend zu machen, zusammengefasst unter dem Begriff «TRIPS-Flexibilitäten». Diese Klauseln wurden in der offiziellen Erklärung von Doha über TRIPS und öffentliche Gesundheit bekräftigt und präzisiert, die im November 2001 auf einer turbulenten WTO-Ministerkonferenz in Katar angenommen wurde.
Die Doha-Erklärung war ein grosser politischer Durchbruch, da sie den Mitgliedstaaten das Recht einräumte, das TRIPS-Abkommen in Bezug auf ihre spezifischen Gesundheitsprobleme zu interpretieren und die «TRIPS-Flexibilitäten» voll auszuschöpfen - zumindest in der Theorie, denn in der Praxis sieht es anders aus.
Diese rechtlichen Instrumente sind essenziell, um den Zugang zu Medikamenten für alle zu gewährleisten. Es handelt sich insbesondere um:
- Zwangslizenzen, mit denen ein Staat Dritten ohne Zustimmung der Patentinhaber*innen die Nutzung eines Patents bewilligen kann (dies jedoch gegen Entschädigung)
- Parallelimporte, durch die ein Land ohne die Zustimmung der Patentinhaber*innen ein Produkt importieren kann, das diese in einem anderen Land günstiger verkaufen
- Generelle Befreiung der am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) von den TRIPS-Verpflichtungen, sowie die Befreiung von der Pflicht, Patente auf Medikamente zu erteilen
Damit die Mitgliedstaaten der Monopolsituation, die Patente faktisch schaffen, etwas entgegensetzen können, räumt ihnen das TRIPS ausserdem das Recht ein, die Definition von ‘Erfindung’, die Kriterien für Patentierbarkeit, die Rechte von Patentinhaber*innen sowie die Bewilligung von Ausnahmen innerhalb des generellen WTO-TRIPS-Rahmens eigenständig festzulegen. Dies hat Indien mit seinem Patentgesetz getan, aber auch andere Länder mit tiefem oder mittlerem Einkommen wie Brasilien oder Argentinien.
Dank der TRIPS-Flexibilitäten und der Konkurrenz durch Generika konnten Fortschritte bei der Verfügbarkeit von AIDS-Therapien in einkommensärmeren Ländern erzielt werden, doch bei nicht übertragbaren Krankheiten (Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten usw.), die auf dem Vormarsch sind, ist dies leider noch viel zu wenig der Fall.
Um hohe Medikamentenpreise effektiv zu senken, gibt es aber ein legitimes und gesetzlich vorgesehenes Mittel: Zwangslizenzen.
Durch das Erlassen einer Zwangslizenz kann ein Staat auch bei bestehendem Patentschutz den Vertrieb von günstigeren Generika ermöglichen, um den Zugang zu Medikamenten zu gewährleisten. Zwangslizenzen sind ein integraler Bestandteil des internationalen Patenrechtssystems. Sie werden aber selten eingesetzt, da Staaten, die eine Zwangslizenz erlassen, in der Regel grossem politischem und wirtschaftlichem Druck ausgesetzt sind.
Nicht nur Pharmamultis üben mitunter grossen Druck auf Staaten aus, die Zwangslizenzen erlassen. Auch Länder mit einer starken Pharmaindustrie drohen mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, weshalb einkommensärmere Länder oft davor zurückschrecken, legitime Mittel wie Zwangslizenzen zu nutzen.
Doch auch die meisten reichen Länder zögern, dieses Instrument anzuwenden – sie wollen sich nicht gegen die Interessen ihres eigenen Pharmasektors stellen, dessen lukratives Geschäftsmodell auf Patenten aufbaut. So versuchen sie nach wie vor, den TRIPS-Spielraum – der die Zwangslizenz eigentlich unbeschränkt erlaubt – einzuschränken, indem sie fälschlicherweise behaupten, dass Zwangslizenzen nur in bestimmten Not- oder Ausnahmesituationen oder bei gewissen Krankheiten wie bspw. AIDS eingesetzt werden dürfen.
In Zusammenarbeit mit der Krebsliga hat Public Eye im Mai 2018 eine nationale Kampagne lanciert. Mit der Sammelbeschwerde «Für bezahlbare Medikamente» forderten wir den Bundesrat auf, überteuerte Medikamentenpreise zu bekämpfen und zu Zwangslizenzen zu greifen, wenn dies nötig ist. Der 45-seitige Bericht «Protect patients, not patents» erklärt überhöhte Arzneimittelpreise und das problematische Geschäftsmodell der Pharmaindustrie und zeigt effektive Lösungen auf.
Mythen über Zwangslizenzen
Regierungen von reichen Ländern scheuen nicht davor zurück, Zwangslizenzen mit irreführenden Fakten zu diskreditieren. Beispielsweise mit den Mythen, Zwangslizenzen würden einer Enteignung der Patentinhaber*innen gleichkommen, zu einem Rückgang der Investitionen führen oder seien nur im Notfall und von extrem armen Ländern anwendbar.
Tatsächlich ist eine Zwangslizenz kein unverhältnismässiges Instrument, denn das ursprüngliche Patent (oder die ursprünglichen Patente) bleibt (bleiben) in Kraft. Patentinhaber*innen wird zudem ein finanzieller Ausgleich (in Form von Lizenzgebühren) gewährt, und sie können ihr Produkt auch weiterhin vermarkten.
Pharmaunternehmen und Gastländer grosser Firmen argumentieren zudem, Zwangslizenzen würden zu einem Rückgang an Investition und Innovation im Bereich der Medikamentenentwicklung führen. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht erwiesen - ebenso wenig wie die Behauptung, Patente würden Innovation fördern. Im Gegenteil: Verschiedene Länder, in denen über eine längere Zeit zahlreiche Zwangslizenzen ausgestellt wurden (u.a. Kanada und USA), erleben keinen Einbruch an Innovation – sondern teilweise sogar einen Anstieg der Investition in F&E. Auch gibt es bezüglich Direktinvestitionen im Ausland keinerlei Erhebungen, die einen negativen Zusammenhang zwischen Investitionen und Zwangslizenzen aufzeigen würden.
Weitere Informationen
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Mythos Nr. 1 - Zwangslizenzen dürfen nur in nationalen Notfällen oder anderen extrem dringlichen Situationen erlassen werden.
Tatsächlich ...
… beschleunigt eine Notfallsituation lediglich den Prozess, ist aber keine Voraussetzung für das Erlassen einer Zwangslizenz.
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Mythos Nr. 2 - Zwangslizenzen sind beschränkt auf bestimmte Krankheiten, etwa HIV/Aids oder übertragbare Krankheiten mit epidemischem Potenzial.
Tatsächlich ...
… sind Zwangslizenzen weder auf bestimmte Erkrankungen noch auf bestimmte Kategorien von Krankheiten beschränkt.
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Mythos Nr. 3 - Nur ärmere Länder dürfen vom Instrument der Zwangslizenz Gebrauch machen.
Tatsächlich ...
…hat jedes WTO-Mitglied das Recht, Zwangslizenzen zu erlassen, und reichere Länder wie die USA haben schon oft davon Gebrauch gemacht.
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Mythos Nr. 4 - Zwangslizenzen stellen eine Enteignung der Patentinhaber*innen dar.
Tatsächlich ...
… bleiben Patentinhaber*innen im Besitz des Patents, behalten das Recht zur Vermarktung ihrer Erfindung und erhalten eine finanzielle Entschädigung.
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Mythos Nr. 5 - Zwangslizenzen dürfen erst als letztmögliches politisches Mittel eingesetzt werden.
Tatsächlich ...
… ist nicht das Erlassen einer Zwangslizenz das letztmögliche Mittel, sondern die Enteignung des Patentes.
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Mythos Nr. 6 - Zwangslizenzen hemmen die Innovation und verringern die Investitionen in Forschung und Entwicklung neuer Medikamente.
Tatsächlich ...
... gibt es keinen Beweis dafür, dass Zwangslizenzen Investitionen in Forschung und Entwicklung verringern oder einen negativen Einfluss auf ausländische Investitionen hätten.