Bilaterale Abkommen und TRIPS+
Gegenstand der Schweizer Verhandlungen sind systematisch auch Klauseln zum geistigen Eigentum, die weit über den Mindeststandard der WTO hinausgehen – die sogenannten TRIPS+ Bestimmungen. Diese gefährden den Zugang benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu Medikamenten, indem sie die Markteinführung von günstigeren Behandlungen (Generika) verzögern.
Problematische TRIPS+ Bestimmungen
Zu den TRIPS+ Bestimmungen, die die Schweiz systematisch für ihre Pharmaindustrie aushandelt, gehört beispielsweise eine längere Gültigkeitsdauer von Patenten, das ausschliessliche Recht an experimentellen Daten zur Bewilligung von Arzneimitteln (Testdatenschutz) oder einen Investitionsschutz für multinationale Unternehmen in diesem Land.
Die Verlängerung der Patentlaufzeit über die von der WTO vorgesehenen 20 Jahre hinaus geschieht in der Regel, indem den Patentinhaber*innen auf nationaler Ebene ergänzende Schutzzertifikate (ESZ) erteilt werden. Diese verlängern die Schutzdauer eines Produkts um mehrere Jahre, mit der Begründung, die Bearbeitungszeit der Patentanmeldung zu kompensieren - eine langjährige Forderung der Pharmaindustrie zur Ausweitung ihrer Monopole. Während solche ergänzenden Schutzzertifikate in Europa üblich sind (bis zu fünf Jahre Verlängerung in der Schweiz), sehen sie weder das TRIPS-Abkommen noch die Gesetze von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen vor.
Mit dem Testdatenschutz können Pharmamultis den nationalen Arzneimittelbewilligungsbehörden systematisch verbieten, gleichwertige Generika anhand von Daten aus ihren klinischen Studien zu bewilligen, und das während mehrerer Jahre nach der Markteinführung des Produkts (in der Schweiz sind es mindestens 10 Jahre). Das TRIPS-Abkommen sieht zwar vor, solche Daten vor «unlauterer Ausbeutung» zu schützen, es gibt jedoch keine Bestimmungen über eine vollständige Exklusivität, eine Dauer oder ein Verbot für Arzneimittelbehörden, solche Daten bei der Zulassung von Generika – welche integraler Bestandteil des Wettbewerbsprinzips sind – zu verwenden.
Der Testdatenschutz hat nichts mit dem Patentstatus zu tun, sondern gewährt den Pharmakonzernen einen zusätzlichen exklusiven Schutz: Dieser verzögert nicht nur die Markteinführung erschwinglicher Medikamente (Generika) weiter; er stellt im Falle einer Zwangslizenz - die sich nur auf das Patentmonopol, nicht aber auf die Datenexklusivität auswirkt - ein zusätzliches Hindernis dar, das die Zulassung von Generika während ihrer gesamten Gültigkeitsdauer verhindert.
In ihrem bilateralen Abkommen mit Indien hat die Schweiz schliesslich (vorerst) auf eine Bestimmung zur Datenexklusivität verzichtet - obwohl sie seit Verhandlungsbeginn im Jahr 2008 bis zum letzten Moment versucht hatte, diese im Text aufzunehmen. In vielen bilateralen Abkommen mit anderen Ländern, wie z. B. mit der Ukraine oder Chile, ist allerdings ein Testdatenschutz enthalten, mit sehr konkreten und schädlichen Folgen für den Zugang zu erschwinglicheren Medikamenten.
Im Rahmen ihrer Verhandlungen über bilaterale Abkommen versucht die Schweiz auch, die von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und einer starken Generikaindustrie - wie Indien, Thailand, Argentinien oder Brasilien (Mercosur) - vorgesehenen TRIPS-Flexibilitäten und Rechtsmittel gegen missbräuchliche Monopole zu beschränken. Auch diese Beschränkungen haben negative Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln und die öffentliche Gesundheit in diesen Ländern und sind daher auch zu den TRIPS+-Bestimmungen zu zählen.
Zu den Verfahren, welche die Schweiz zu schwächen versucht, gehören:
Einsprüche vor der Patent-Erteilung («pre-grant oppositions»): Nur etwa 20 Länder, wie Indien oder Thailand, nutzen diese in den WTO-Abkommen verankerte rechtliche Flexibilität. In der Schweiz und den allermeisten reichen Ländern Europas, Nordamerikas und Asiens sind solche Verfahren vor der Erteilung nicht im Gesetz vorgesehen – dort gibt es Möglichkeiten von Einsprüchen nur nach einer Patenterteilung. Schweizer Pharmaunternehmen haben sich in der Vergangenheit mehrfach die Zähne an Einsprachen gegen Patente vor deren Erteilung ausgebissen. Ein Beispiel hierfür ist der berühmte Fall des Krebsmedikaments Glivec von Novartis, dessen Primärpatent von den indischen Behörden verweigert wurde.
Die Schweiz versucht, die Flexibilitäten, die es erlauben, vor dem Patenterteilungsverfahren einzugreifen, überall dort zu schwächen, wo sie in Kraft sind - beispielsweise hat sie dies in ihrem im März 2024 abgeschlossenen bilateralen Freihandelsabkommen mit Indien getan.
Zwangslizenzen bei fehlender Nutzung von Patenten: Die meisten nationalen Gesetze schreiben – in unterschiedlichem Masse - vor, ein Patent im Land, in dem es erteilt wurde, kommerziell zu verwerten und den zuständigen Behörden darüber Bericht zu erstatten. Damit soll verhindert werden, dass Patente erworben werden, ohne die Absicht die lokale Wirtschaft zu unterstützen. Diese Pflicht zur Nutzung von Patenten ist für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen ein Mittel zur Stärkung der lokalen Produktion und eine Gegenleistung für ihre Bemühungen, die Erteilung von Patenten auf pharmazeutische Produkte weltweit zu harmonisieren (WTO-TRIPS-Standards). Viele multinationale Pharmaunternehmen produzieren jedoch nicht (oder nicht mehr) notwendigerweise vor Ort, sondern importieren das patentierte Produkt, was von einigen Ländern als mangelnde Nutzung des Patents bzw. der Patente angesehen wird. Dies ist für sie ein Grund TRIPS-Flexibilitäten wie Zwangslizenzen anzuwenden. Indien beispielsweise hat diesen Mechanismus bereits genutzt.
Die Schweiz und die EFTA schwächen in bilateralen Abkommen die Pflicht zur Nutzung von Patenten, wie beispielsweise in den Freihandelsabkommen mit Indien (März 2024) oder Indonesien (Dezember 2018). So schränken sie den politischen Spielraum von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ein, gegen Patente vorzugehen, die der lokalen Wirtschaft nicht ausreichend zugutekommen, und versperren den Weg zu erschwinglicheren Generika auf diesen Märkten.
Widerstand gegen die begrenzte TRIPS-Ausnahme für die einkommensärmsten Länder
Immer wieder zeigen sich die reichen Länder (darunter auch die Schweiz) in FHA-Verhandlungen unwillig, die TRIPS Flexibilität einer dauerhaften und vorbehaltlosen Befreiung («Waiver») der wirtschaftlich schwächsten Länder (LDCs) zu gewähren – trotz Anerkennung des besonderen Status der 45 einkommensärmsten Länder der Welt. Nach mehreren hart erkämpften Verlängerungen sind die LDCs bis zum 1. Januar 2033 von der Erteilung von Arzneimittelpatenten und bis zum 1. Juli 2034 vom Schutz des geistigen Eigentums (Anwendung des TRIPS-Abkommens im Allgemeinen) befreit.
Die Behauptung der Pharmaindustrie, sie werde in den ärmsten Ländern aus Verantwortungsgefühl keine Patente beantragen, ist eine reine PR-Massnahme, da die am wenigsten entwickelten Länder durch die WTO gesetzlich von der Erteilung von Patenten ausgenommen sind.