Missbräuchliche Sekundärpatente
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Ein neues Medikament ist nicht nur durch ein einziges, sondern durch Dutzende, manchmal sogar durch über 100 Patente geschützt – ein wahrer Patent-Dschungel (auf Englisch «patent thicket»). Die Patente werden zeitlich gestaffelt eingereicht, was bedeutet, dass die Dauer des Monopols für ein Produkt oft weit über die 20 Jahre hinausgeht, die das Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an Geistigem Eigentum (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) theoretisch vorsieht. Es handelt sich um eine Strategie der endlosen Anhäufung von Patenten, die im Englischen als «Evergreening» bezeichnet wird.
Es gibt zwei Arten von Patenten:
Primärpatente, die sich auf den Wirkstoff beziehen und früh in der Entwicklungsphase angemeldet werden;
Sekundärpatente, die kurz vor oder während der Vermarktungsphase angemeldet werden und die Dauer der Marktexklusivität verlängern, ohne einen echten therapeutischen Mehrwert zu bieten.
Während jedes Patent eine Ausnahme vom freien Markt darstellt, haben Sekundärpatente die grössten Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Preise – zumal Patente dieser Art in den letzten Jahren stark zugenommen haben, und das vor allem in den USA, wo sie leichter erteilt werden.
In grossem Stil erteilte Sekundärpatente
Jahr für Jahr rühmt sich die Schweiz als eines der «innovativsten Länder», wobei sie sich lediglich auf die Anzahl der angemeldeten Patente stützt. Doch zumindest im Bereich der Medikamente sind die allermeisten davon ungerechtfertigt und haben wenig mit echtem Fortschritt zu tun. Denn die grossen Pharmakonzerne haben schnell die finanziellen Vorteile erkannt, die sie aus den Schutzwällen missbräuchlicher Patente ziehen können, die ihrer Konkurrenz den Weg versperren. Die Zeche zahlen die Patient*innen: Sie müssen ihre Behandlungen – ohne stichhaltige Begründung – länger zum hohen Monopolpreis erwerben.
Zur Erinnerung: Ein Patent ist ein Exklusivrecht auf eine Erfindung, das seine Inhaber*innen berechtigt, Dritten deren Herstellung und Vermarktung zu verbieten. Es ist jedoch ein territoriales Recht: Wenn ein Pharmaunternehmen sein Medikament in mehreren Ländern schützen will, muss es den Schutz in jedem einzelnen Land beantragen – ausser in Europa, wo das Europäische Patentamt (EPA), dem 39 Länder einschliesslich der Schweiz angehören, über ein zentralisiertes Verfahren verfügt, das in all diesen Gerichtsbarkeiten gleichzeitig gültig ist.
Ausserdem muss eine Erfindung drei allgemeine Voraussetzungen erfüllen, um patentiert werden zu können: (1) Sie muss neu sein, (2) auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und (3) gewerblich anwendbar sein. Eine Patentanmeldung für ein Medikament wird also nicht danach beurteilt, ob die Behandlung nützlich ist – es wird lediglich berücksichtigt, ob es sich um eine «neue Erfindung» handelt, selbst wenn es sich nur um eine geringfügige Änderung an einem bereits existierenden Produkt handelt.
Das TRIPS-Abkommen lässt den WTO-Mitgliedstaaten einen grossen Handlungsspielraum bei der Entscheidung, welche Erfindung ein Patent verdient und welche nicht, solange diese Voraussetzungen erfüllt werden. Je nach geltendem Recht und der Sorgfalt, mit der die Anträge geprüft werden, werden Patente also entweder massenhaft erteilt (wie in den USA); etwas eingeschränkter, da manchmal angefochten (wie in Europa); oder aber zurückhaltend aufgrund restriktiverer Bestimmungen, die verhindern sollen, dass Pseudo-Erfindungen, die das Recht auf Gesundheit gefährden, belohnt werden (wie in Indien). Diese Ansätze haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Zugang zu Arzneimitteln, wobei kostengünstigere Generika dadurch je nach Land früher oder später auf den Markt kommen.
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Die USA – ein wahres Eldorado für die Pharma
Wie in vielen anderen Branchen dominieren die USA auch in der Pharmaindustrie den Markt. Mit einem Jahresumsatz von über 600 Milliarden US-Dollar macht die USA allein mehr als die Hälfte des weltweiten Pharmamarktes aus. Ein zentrales Spielfeld für Roche und Novartis, die 2023 gemessen am Umsatz weltweit an zweiter bzw. achter Stelle standen.
Die Basler Riesen sind langjährige Mitglieder der mächtigen Pharmalobby in den USA (The Pharmaceutical Research and Manufacturers of America oder PhRMA), die mit ihren Interessen im Kongress und im Weissen Haus gut vertreten ist. Der CEO von Novartis hat seit 2023 sogar den Vorsitz inne. In den USA profitieren die Pharmakonzerne von zahlreichen Anreizen und erheblichen Steuervergünstigungen in der Forschung, sowie von einer sehr grosszügigen Patentpolitik und einem Rechtssystem, das sich für die Einleitung von Rechtsstreitigkeiten bestens anbietet. Das Marktzulassungsverfahren ist zudem eng mit dem Patentstatus verknüpft, was in Europa nicht der Fall ist. Und als Tüpfelchen auf dem i gibt es bis heute keine wirkliche staatliche Preiskontrolle.
Die Konzerne versuchen daher, ihre neuen Produkte zuerst in den USA auf den Markt zu bringen, um ihre Erfindung aufgrund der grosszügigen Patentvergabe so lange wie möglich (manchmal 40 bis 50 Jahre) schützen zu können und auf dem US-Markt einen sehr hohen Preis zu erzielen. Diesen können sie dann als Verhandlungsbasis in anderen Ländern nutzen, wo die Preise etwas strenger überwacht werden, wie zum Beispiel in Europa.
Die Schweiz muss gegen missbräuchliche Patente vorgehen
Das Evergreening, die missbräuchliche Anhäufung von Sekundärpatenten auf Arzneimittel, behindert den Zugang zu Medikamenten und verursacht enorme Mehrkosten für Patient*innen sowie für die Gesellschaft. In der Schweiz machten im Jahr 2023 Medikamente fast 1 von 4 Franken der Ausgaben der obligatorischen Krankenversicherung aus, wobei 75% davon auf patentierte Produkte zurückzuführen sind, wie eine Analyse des Bundesrates zeigt. Welcher Anteil ist auf missbräuchliche Sekundärpatente zurückzuführen, durch die ein Monopol – und der damit verbundene hohe Preis – viel länger aufrechterhalten werden kann, als die WTO-Regeln vorsehen? Das lässt sich unmöglich beziffern, da es in Europa keine genauen Studien zu diesem Thema gibt. Wir können jedoch davon ausgehen, dass dieser Anteil hoch ist, wenn man die begrenzte Anzahl neuer Medikamente, die jedes Jahr auf den Markt kommen, mit allen angemeldeten pharmazeutischen Patenten vergleicht.
Laut der US-amerikanischen NGO I-MAK beläuft sich der Missbrauch von Patenten bei den zehn meistverkauften Medikamenten in den USA auf Dutzende von Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Kosten pro Jahr für das Gesundheitssystem. Die US-Regierung hat 2024 endlich ihre Stimme gegen diesen Patent-Dschungel erhoben, der die Gier von Big Pharma nährt, und plant Reformen. Dreht sich der Wind gerade auf der anderen Seite des Atlantiks?
Die Schweiz ihrerseits weigert sich in multilateralen Foren systematisch, gegen den Missbrauch des geistigen Eigentums in Bezug auf den Zugang zu Medikamenten vorzugehen. Dies war während der Covid-Krise (in der WTO) zu sehen und es zeigt sich im Rahmen des internationalen Pandemievertrags, über den in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verhandelt wird. Schlimmer noch, die Schweizer Behörden versuchen, das geistige Eigentum weiter zu stärken oder, falls dies nicht gelingt, den Handlungsspielraum von einkommensschwächeren Ländern bei der Bekämpfung von Missbrauch einzuschränken, wie im Rahmen des im März 2024 mit Indien geschlossenen bilateralen Freihandelsabkommens zu sehen war.
Als Mitglied des EPA, das die europäischen Pharma-Patente erteilt, könnte die Schweiz auf dieser Ebene handeln und eine gründlichere Prüfung der Anträge vorantreiben. Auch wenn Europa weniger Patente erteilt als die USA, werden immer noch viel zu viele ungerechtfertigte Patente vergeben. Das belegt unsere Einsprache von 2019 zum Krebsmittel Kymriah, der zum Widerruf des beanstandeten Patents durch Novartis führte, bevor es zu einer kontroversen Debatte kam. Es ist besser, die Erteilung missbräuchlicher Patente bereits im Vorfeld zu verhindern, als sie hinterher in langen und teuren Rechtsstreitigkeiten bekämpfen zu müssen. Deshalb sind strengere Regeln für die Patentierbarkeit und deren Durchsetzung zwingend erforderlich.
Die Schweiz war lange Zeit gegen Patente auf Medikamente, da sie diese als ein lebenswichtiges und einzigartiges Gut betrachtete, bevor sie ihre Position radikal änderte. Die Schweiz muss ja nicht gleich zurück zu dieser Haltung. Aber warum nicht einfach damit beginnen, die missbräuchlichen Praktiken der Pharmakonzerne zu bekämpfen, die sich in der Schweiz und anderswo negativ auf die Gesundheit und die öffentlichen Finanzen auswirken?